“Si ch’io vorrei morire”
Werkverzeichnisnummer: 3630
2005 RheinVokal
Volkslieder zählen zu den ältesten, lebendig gebliebenen Zeugnissen für die Schöpferkraft und künstlerische Selbstbestätigung des Menschen. In welcher Form und Funktion auch immer, es ist letztlich der Gesang, der den Zugang zum Erlebnis der Musik öffnet. Keine andere musikalische Gattung – vielleicht sogar keine andere Kunstgattung überhaupt – spiegelt dank der sich gegenseitig befruchtenden Wirkung von Literatur und Musik (oft noch bereichert durch Spiel und Tanz) das Fühlen, Denken und Handeln von Völkern und Nationen so kontinuierlich, differenziert und unverstellt wider wie die des Volksliedes.
Johann Gottfried Herder (1744-1803) war der erste deutsche Dichter, der aus kultureller Besorgnis und nationaler Verantwortung zum Sammeln von Volksliedern aufrief (Stimmen der Völker in Liedern 1778/79): “Sie liegen so tief, sind so verachtet und entfernet, hangen so am äußersten Ende des Untergangs und ewigen Verlustes. – Eben hier und deswegen ist dieser Versuch gewagt, wie gezeigt, mit dem Hauptzweck, dass andere mehr und glücklichere wagen: aber ja mit Eifer, Mühe, jetzt! – Wir sind eben am äußersten Rand des Abhanges: ein halbes Jahrhundert noch, und es ist zu spät!”
Herder erkannte in den Volksliedern “die Stimme des Volkes”,
seinen “verhohlenen Schmerz”, seinen “verspotteten Gram; und die Klagen, die niemand hört, das ermattende Ächzen des Verstoßenen, des niemand im Schmuck sich erbarmt”, aber auch “den geselligen Trost, und den unschuldigen Schmerz, und den fröhlichen Spott und die helle Lache des Volkes” zum Ausdruck bringen. Er zeichnete Beispiele aus zahlreichen europäischen Ländern auf – von Lappland bis Sizilien, von Spanien und Frankreich bis Griechenland, von Island und Schottland bis zu den baltischen Provinzen, dazu Proben tartarischer, madegassischer, peruanischer und grönländischer Gesänge.
Was Herder dabei besonders faszinierte, war die Ambivalenz, die “Doppelgesichtigkeit” der Volkspoesie zwischen Lob und Preis, Freude, Jubel oder Begeisterung, Heiterkeit, Ausgelassenheit und Vergnügen, Scherz und Gelächter auf der einen sowie Trauer, Verzweiflung und Bitterkeit, Klage und Anklage auf der anderen Seite. Es war also keineswegs nur die später gern in der Rückschau verklärte “heile Welt der alten Zeit”, die sich im Lebensgefühl des Volksliedes spiegelte.
Die Romantiker des 19. Jahrhunderts sahen im Volkslied das unverstellt Natürliche, Charakteristische auch das Nationale. Der Textsammlung von Johann Gottfried Herder (ab 1778) folgten die von Achim von Arnim und Clemens Brentano (Des Knaben Wunderhorn, 1806-1808) sowie Melodien-Sammlungen von Ludwig Erk (1838-1845), Anton Wilhelm von Zuccalmaglio (1835-1836) und Franz Magnus Böhme (1893-1894).
Da Volkslieder mündlich weitergegeben wurden, kam diesen nachvollziehenden Sammlungen eine überaus wichtige Funktion zu. Nicht wenige Volkslieder nämlich veränderten in diesem Prozess zum Teil mehrfach ihre melodische Gestalt oder verschwanden ganz aus dem Bewusstsein der nachfolgenden Generationen. Im Einzelfall konnte es jedoch auch passieren, dass ein Kunstlied – also eines aus der Feder eines Komponisten – nachträglich zum Volkslied wurde. Das berühmteste Beispiel dafür dürfte Der Lindenbaum aus Franz Schuberts Liederzyklus Winterreise sein.
Hatte die systematische Erfassung von Volksliedern in Deutschland durch Herder relativ früh Impulse empfangen, so begann man in anderen europäischen Ländern damit erst um die Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert. Beispielhaft widmeten sich Béla Bartók und Zoltán Kodály in Ungarn dieser Aufgabe und trugen auf diese Weise nicht zuletzt zum Erstarken des ungarischen Nationalgefühls innerhalb der damaligen Habsburger-Monarchie bei. Bereits der große russische Nationalkomponist des 19. Jahrhunderts Michail Glinka hatte erkannt, dass große Kunst ihre Wurzeln im Empfinden des Volkes hat. Er meinte sogar: “Das Volk schafft die Musik – wir Komponisten arrangieren sie nur.”
Der reiche Schatz des Volksliedes inspirierte viele große Komponisten. Umgekehrt bedarf es aber auch einer Bearbeitung, wenn es außerhalb seiner ursprünglichen (und heute in Mitteleuropa kaum mehr gegebenen) Funktion lebendig bleiben soll.
Das heutige Programm bietet unterschiedliche Möglichkeiten solcher Arrangements. Im ersten Teil erklingen internationale Liebeslieder, die entweder nachträglich in einem modernen Stil bearbeitet oder bereits von ihren Komponisten (Monteverdi, Haßler, Chailley, Silcher bzw. Lindberg) in einem mehrstimmigen A-Cappella-Satz ausgearbeitet wurden. Letztere sind dem zufolge im strengen Sinne keine Volkslieder.
Michael Märker