„Ohimè il bel viso“ à 5 voci
Werkverzeichnisnummer: 3617
2005 RheinVokal
Claudio Monteverdi
Mantua, Dezember 1601: Herzog Vincenzo Gonzaga kehrt erschöpft und enttäuscht aus Ungarn zurück, wo er die Türken schlagen wollte. Statt militärischen Ruhms erwartet ihn ein Brief, der Musikgeschichte schreiben wird: der Cremoneser Claudio Monteverdi, seit 11 Jahren in des Herzogs Diensten, bewirbt sich um das Amt des Hofkapellmeisters. Vincenzo willigt ein und erringt damit seinen glanzvollsten Sieg: eine Wende in der europäischen Musikgeschichte.
Im Laufe des folgenden Jahrzehnts bringt Monteverdi die Musik soweit, „als sie ohne ihn vielleicht in einem halben Jahrhundert nicht fortgerückt wäre“ (E.-L. Gerber 1790). Er verändert das altehrwürdige Madrigal zu einer Form dramatischer Rede, in der jedes Wort rhetorisch aufgeladen wird. Er entthront den Kontrapunkt und erklärt das Wort zum Herren über die Musik. Er fügt den Singstimmen einen Basso continuo für die Laute oder das Cembalo hinzu, der sie vom strengen Satz befreit und dadurch beweglich macht. Aus fünfstimmigen Madrigalen werden Duette und Terzette, aus Imitationen melodiöse Arien, aus einem Chor stilisierter Stimmen lebendige Individuen.
All dies geschieht in einer Zeit des Aufbruchs. Mantua sonnt sich in den ersten Strahlen des aufgehenden Barock. Rubens kauft für Herzog Vincenzo skandalöse Bilder wie Caravaggios Marientod, Monteverdi und die Dichter Striggio und Rinuccini arbeiten an den ersten vollgültigen Opern der Geschichte: Orfeo und Arianna. Opernszenen sind auch seine Madrigale, die er in acht Büchern veröffentlicht. Nicht nur das Leben schreibt ihre Geschichten, sondern auch der Mythos und die Pastorale. Antike Götter, klagende Nymphen und verliebte Schäfer bevölkern die Szene, doch hinter ihnen kommen Tragödien aus Monteverdis eigener Lebensgeschichte zum Vorschein.
1607, ein halbes Jahr nach der Uraufführung seines Orfeo, stirbt seine Frau an den Folgen des sumpfigen Mantuaner Klimas und der ewigen materiellen Sorgen, die die leeren Kassen des Herzogs ihrem Mann aufbürden. Ein Jahr später folgt ihr Caterina Martinelli ins Grab, der glänzende 17-jährige Stern am Mantuaner Sängerhimmel. Monteverdi hatte Caterina in sein Haus aufgenommen und für sie Arianna geschrieben. 1612 entlässt ihn ein neuer Herzog aus Mantuaner Diensten, 1627 wird sein Sohn Massimiliano von der Inquisition verhaftet, 1630 entgeht er mit knapper Not der Pest in Venedig. All dies hat Monteverdis musikalische Sprache gefärbt: das düstere Hell-Dunkel der Harmonien, das wie ein Spiegel der Malerei jener Zeit erscheint.
Den Tod der Caterina Martinelli hat Monteverdi in seinem schönsten Madrigalzyklus besungen: der sogenannten „Sestina“ mit dem Untertitel „Tränen des Liebenden am Grab der Geliebten“. Der Begriff Sestina bezeichnet eine besonders kunstvolle Form der Dichtung: sechs Gedichte von je sechs Zeilen, deren letzte Worte in allen Gedichten wiederkehren, aber in neuer Reihenfolge. In Monteverdis Sestina wird dieses Schema streng durchgehalten – mit einer zusätzlichen Strophe am Ende. Die sechsmal vertauschten Endwörter der Zeilen bezeichnen den Inhalt der Geschichte und die Spanne des Affekts: „Glaucus“, der Name des Geliebten (Glauco), das „Grab“ seiner Geliebten Corinna (tomba), Himmel und Erde (cielo, terra), die Brust der Geliebten (seno) und das Weinen des Glaucus (pianto). Zwischen diesen Wörtern ist die sechsteilige Trauerrede gewissermaßen eingespannt. Scheinbar gefasst sehen wir zu Beginn den Hirten Glaucus (Monteverdi selbst) an das Grab seiner Corinna (alias Caterina) treten. Doch bald schon und immer wieder bricht der Schmerz aus ihm heraus, bis am Ende die Winde mit ihm unaufhörlich wiederholen: „Ahi Corinna, ahi morte, ahi tomba“ – Ach Corinna! Ach Tod! Ach Grab!
Nicht alle Hirtengedichte in Monteverdis Madrigalen erzählen vom Tod in Arkadien, dem „et in Arcadia ego“ der zeitgenössischen Kunst, wie es Guercino oder Caracci gemalt haben. Nicht immer stehen die Hirten vor einem Sarkophag wie Glaucus. Für die drei Hirten in Alle danze sind die Früchte Amors – Kristalle, schöne Äpfel und, was es der erotischen Symbole noch mehr geben mag – ein Grund zu ungetrübter, sich gegenseitig steigernder Vorfreude.
Trauer und Klage haben in den Madrigalen auch andere Gründe als den Tod. Verlassen zu werden, ist das Schicksal vieler Heldinnen in Monteverdis Madrigalen, vom Lamento d’Arianna bis zum Lamento della Ninfa. Letzteres, das vom Liebesleid einer namenlosen Nymphe erzählt, entstammt Monteverdis achtem und letztem Madrigalbuch. 1638 hat der greise Kapellmeister an der Markuskirche in Venedig diese monumentale Sammlung zusammengestellt: strenge, altertümelnde Madrigale neben ganz modernen Opernszenen. Eine solche ist auch die Klage der Nymphe, die von drei Hirten wie von einem bewegten Opernpublikum belauscht wird. Zu Beginn umreißen die drei Männer die Szene, dann erscheint sie über dem absteigenden Bass einer Passacaglia und ruft Amor an, den Liebesgott, der ihren Liebsten bewog, sie zu verlassen. Die drei Hirten sehen bedauernd zu und werden immer tiefer ins Leid der Frau hineingezogen, bevor ihr versöhnliches Terzett den Vorhang über der kleinen Szene schließt. Im „Tempo della mano“, also im gleichmäßigen Taktschlag der Hand, solle man die Eckteile dieses Madrigals singen, so Monteverdi, den Hauptteil aber, die Klage, müsse man im „Tempo der Leidenschaften der Seele“ singen.
Das Schäferland der Liebe kennt kein ewiges Leid. Ein neuer Hirte wird kommen, die Füße und das Haar der Nymphe küssen und sie zum Tanz auffordern. Ninfa che scalza il piede ist eine solche Szene der Werbung, die Monteverdi ebenfalls in sein 8. Buch aufnahm.
Wenn die Liebe das Lebensthema der Hirten ist, dann ist die Vergänglichkeit allen irdischen Glücks das der Menschen im Barock. In seiner letzten Oper, L’incoronazione di Poppea, hat Monteverdi 1642 die Leidenschaften der Menschen und ihre Pervertierung durch Macht- und Fleischeslust schonungslos bloßgelegt. Kaiser Nero wirft sich der Kurtisane Poppea in die Arme, schlägt die Moral seines Lehrers Seneca in den Wind und schickt seine Gemahlin Octavia in die Wüste. Am Ende, wenn er mit Poppea im Duett glücklich vereint ist, lachen ihn seine Höflinge aus. Die wundervollen, sich umschlingenden Linien dieses Duetts könnte auch Monteverdis jüngerer Zeitgenosse Rigatti komponiert haben, weil der alte Maestro seine letzte Oper selbst nicht mehr hat vollenden können, doch ist dies eine unbewiesene Behauptung.
Mit Ohimè il bel viso kehren wir zum 6. Madrigalbuch von 1614 zurück, in dem auch Monteverdis Sestina erschienen war. Neben die Totenklage für Caterina Martinelli hat er die Totenklage für seine Frau gestellt. Er griff dafür zum Erhabensten, was die italienische Dichtung ihm bot: zu Petrarcas Sonett auf den Tod seiner Geliebten Laura, Ohimè il bel viso. Auch hier zieht sich der Komponist eine klassische Maske auf, wie es der höfischen Etikette entsprach, doch seine Musik spricht direkt, unverblümt zum Herzen.