Saudades do Brazil. Suite für Klavier, op. 67
Werkverzeichnisnummer: 1001
1. Sorocaba
2. Botafago
3. Leme
4. Copacabana
5. Ipanema
6. Gávea
7. Corcovado
8. Tijuca
9. Sumare
10. Paineras
11. Laranjeiras
12. Paysandu
Darius Milhaud, Südfranzose aus Aix-en-Provence, war der Weltbürger unter den französischen Komponisten der „Goldenen“ Zwanziger Jahre. Während des Ersten Weltkriegs hatte er an der Seite des Dichters Paul Claudel die diplomatischen Interessen Frankreichs in Brasilien vertreten und dort die Welt der Indianer und der brasilianischen Straßenmusikanten kennen gelernt. Auf Reisen nach Afrika vertiefte er sich in die Kultur der Schwarzen, während ihn ein Aufenthalt in New York 1922/23 mit den neuesten Errungenschaften des Jazz vertraut machte. All dies trug Früchte in seiner Musik, besonders die Eindrücke aus dem geliebten Brasilien. An den Straßengesängen von Rio faszinierte ihn der „einhämmernde Rhythmus”. An einer anderen Stelle seiner Autobiographie rühmt er die „unfassbaren und traurigen Melodien“ des Pianistin Ernesto Nazareth, den er in einem Kino in Rio spielen hörte. Expeditionen an den Amazons inspirierten Milhaud zu einer Art Urwaldmusik, die konsequent in mehreren Tonarten gleichzeitig gespielt wird.
Als er mit diesen Experimenten zurück nach Frankreich kam, war der Skandal unausweichlich, zumal Milhaud durch die provokante Knappheit seiner Stücke die Hörerwartungen zusätzlich enttäuschte. Als 1920 in den Concerts Colonne erste Orchesterstücke von ihm erklangen, mussten sie unter dem wütenden Protest der Zuhörer abgebrochen werden. Der greise Camille Saint-Saëns fühlte sich bemüßigt, vom fernen Algier aus in den Skandal einzugreifen, und schickte einen abschätzigen Brief: „Mehrere Instrumente, die in verschiedenen Tonarten gleichzeitig spielen, haben noch nie Musik produziert, sondern nur Katzenmusik.“ Auch das Publikum hierzulande wurde schon bald nach dem Ersten Weltkrieg mit dieser „Katzenmusik“ konfrontiert: 1921 hob Milhaud in Wiesbaden seine Sonate für Klavier und drei Blasinstrumente aus der Taufe, die er 1918 in Brasilien komponiert hatte.
Auch die Saudades do Brazil bürden den Hörerinnen und Hörern manch sperrige Klänge auf, da auch hier Akkorde in fremden Tonarten den brasilianischen Rhythmen zusätzliche Würze verleihen. In manchen Stücken begleiten Akkorde der linken Hand eine simple Melodie der rechten Hand in einer anderen Tonart, in anderen Stücken verbinden sich beide Hände zu Clustern in typisch brasilianischen Rhythmen. In der originalen Klavierfassung kommt diese Polytonalität krasser zur Geltung als in der bekannteren Orchesterfassung, die besonders von amerikanischen Dirigenten wie Leonard Bernstein gerne auf ihre Programme gesetzt wurde, seit sie Milhaud selbst in den Vierziger Jahren in den USA populär gemacht hatte. Die originale Klavierfassung dagegen ist heute nur selten zu hören, obwohl jeder ihrer Sätze einem anderen großen Pianisten des 20. Jahrhunderts gewidmet ist. So dedizierte Milhaud den Satz Ipanema dem großen Arthur Rubinstein, das Stück Tijuca dem Pianisten Ricardo Viñes. Einzelne Sätze der Suite wurden auch in Streicherbearbeitungen populär wie besonders Tijuca, das man in Arrangements für Violine oder Violoncello und Klavier kennt.
Der Titel der Suite bedeutet soviel wie „Sehnsucht nach Brasilien“, was sich leicht daraus erklärt, dass Milhaud dem ehemaligen französischen Gesandten in Brasilien, Paul Claudel, 1920 ins kalte Dänemark folgen musste, wo ihn die Sehnsucht nach dem warmen Rio packte. Der Aufbau ist denkbar einfach: Jeder der 12 Sätze beschreibt einen anderen der 12 Stadtteile von Rio de Janeiro – vom bekanntesten, Copacabana, bis zum unscheinbarsten, Paineras. Die knappe Dauer der Sätze zwischen 60 und 150 Sekunden, die stets wechselnden Rhythmen und Akkordfarben machen die Suite zu einem höchst abwechslungsreichen Spaziergang durch eine der berühmtesten Städte der Welt.