Sonate c-Moll, BWV 1017 | Kammermusikführer - Villa Musica Rheinland-Pfalz

Johann Sebastian Bach

Sonate c-Moll, BWV 1017

Sonate Nr. 4 c-Moll für Violine und obligates Cembalo, BWV 1017

Besetzung:

Werkverzeichnisnummer: 98

Satzbezeichnungen

1. Siciliano. Largo

2. Allegro

3. Adagio

4. Allegro

Erläuterungen

Die sechs Sonaten für Violine und obligates Cembalo, BWV 1014-1019

Die “Sei Sounate à Cembalo certato è Violino Solo”, wie sie in der frühesten authentischen Quelle genannt werden, sind Bachs bedeutendster Kammermusikzyklus, gewissermaßen sein kammermusikalisches Vermächtnis an die Nachwelt. Es waren die ersten Violinsonaten der Musikgeschichte, in denen das Tasteninstrument sich aus der Rolle der akkordischen Begleitung im Basso continuo löste und der Violine als gleichberechtigter Partner gegenübertrat. Die Fantasie, mit der Bach die satztechnischen Möglichkeiten dieser Konstellation auskostete, die formale Vollendung jeder einzelnen Sonate und ihre ganz spezifische Ausdruckswelt machen diese Stücke zu den ersten “klassischen” Duosonaten des Geigenrepertoires.

Im satztechnischen Verständnis der Bachzeit handelte es sich freilich um Triosonaten. Da über dem Bass, also der linken Hand des Cembalos, zwei Oberstimmen, die Violine und die rechte Hand, konzertieren, hat man es mit einer der Triosonate analogen Situation zu tun. Unter Bachs Händen multiplizierten sich freilich die Möglichkeiten dieser Konstellation – vom puren Cembalosolo über den strengen Triosatz bis hin zum veritablen Quartett- oder gar Quintettsatz.

Komponiert wurden die Sonaten vor 1725. Im Sommer dieses Jahres nämlich ließ Bach von seinem Neffen Johann Heinrich eine Stimmenabschrift anfertigen, die er eigenhändig um die letzten Sätze der noch unvollendeten sechsten Sonate ergänzte. Offenbar wollte Bach die Sonaten bei seinem Besuch in Dresden im September 1725 mit seinem dortigen Geigerfreund Johann Georg Pisendel spielen und möglicherweise auch im Dezember in Köthen, zusammen mit dem Köthener Konzertmeister Spieß und Fürst Leopold an der Gambe. Zu den Sonaten hat sich nämlich eine Gambenstimme erhalten, die den Cembalobass verstärkt. Komponiert wurden die Stücke sicher vor seinem Amtswechsel nach Leipzig, also vor Mai 1723 am Köthener Hof. Später hat Bach den Zyklus zweimal überarbeitet, wobei die sechste Sonate jeweils eine grundlegende Neufassung erfuhr. Die Fassung letzter Hand aus der 1740er Jahren ist in einer Abschrift seines Schwiegersohns Johann Christoph Altnickel erhalten.

SONATA IV c-Moll, BWV 1017

Die c-Moll-Sonate beginnt so italienisch wie keines ihrer Schwesterwerke: mit einem Siciliano, einem jener sanft schwingenden Adagios im 6/8- oder 12/8-Takt, deren Melancholie von Sizilien aus ganz Europa eroberte. Um 1720, als Bach diese Sonate schrieb, erreichte das Siciliano-Fieber in Deutschland seinen Höhepunkt. Bei Bach reichte es bis in die Matthäuspassion hinein, deren “Erbarme dich”-Arie nichts anderes als ein Siciliano für Alt, Violine und Streicher ist. Das Siciliano der c-Moll-Sonate nimmt etliche Elemente der “Erbarme dich”-Arie vorweg: den melodischen Bogen mit zwei Sextsprüngen aufwärts, den absteigenden Bass, den schwingenden Rhythmus und die harmonischen Ausweichungen in verminderte Dreiklänge und in den sogenannten “Neapolitaner”. Die gebrochenen Dreiklänge in der rechten Hand des Cembalos verbinden sich mit den melodischen Bögen der Geigenstimme zu jenem sanft-fließenden Duktus, den das Zeitalter am Siciliano so schätzte.

Energisch eröffnet das Cembalo die folgende dreistimmige Fuge. Ihr Thema ist ungewöhnlich weitgespannt, moduliert nach Es-Dur, führt mit Sept und verminderter Quart spannungsvolle Intervalle ein und gehört auch rhythmisch zu Bachs reichsten Fugenthemen. Formal hat Bach kaum einen Sonatensatz von größerer Stringenz geschrieben, denn das im Mittelteil eingeführte Seitenthema und ein chromatisches Kontrasubjekt lenken das Fugenthema so zwingend auf die Bahn kontrapunktischer Verdichtung, dass das Ende der Fuge quasi in einem einzigen großen Bogen erreicht wird.

Nach den chromatischen Komplikationen dieses Satzes sorgt das Es-Dur-Adagio für Entspannung. Über ruhigen Triolen des Cembalos schwingt sich die Violine immer wieder aus der tiefen in die mittlere Lage auf. Ihr Gesang ist durch Pausen in viertaktige Phrasen gegliedert; punktierte Rhythmen und Überbindungen erwecken den Eindruck, als deklamiere die Geige einen Text. Dur-Moll-Wechsel und Quartvorhalte suggerieren einen Affekt von schmerzlicher Süße, vergleichbar dem Bass-Arioso “Betrachte, meine Seel” aus der Johannespassion.

Italienisch, wie sie begonnen hat, endet die Sonate auch: mit einem Allegro, das in seiner Motorik den Violinsonaten Tomaso Albinonis abgelauscht ist, die Bach besonders schätzte. Wieder eröffnet das Cembalo, wieder antwortet die Geige mit dem Thema in der Quint, das hier in der zweiteiligen Form eines Tanzsatzes ausgearbeitet wird – wobei der zweite Teil wieder mit einem Gegenthema eröffnet wird.