Sonate Nr. 3 E-Dur für Violine und obligates Cembalo, BWV 1016
Werkverzeichnisnummer: 97
1. Adagio
2. Allegro
3. Adagio ma non tanto
4. Allegro
Die sechs Sonaten für Violine und obligates Cembalo, BWV 1014-1019
Die „Sei Sounate à Cembalo certato è Violino Solo“, wie sie in der frühesten authentischen Quelle genannt werden, sind Bachs bedeutendster Kammermusikzyklus, gewissermaßen sein kammermusikalisches Vermächtnis an die Nachwelt. Es waren die ersten Violinsonaten der Musikgeschichte, in denen das Tasteninstrument sich aus der Rolle der akkordischen Begleitung im Basso continuo löste und der Violine als gleichberechtigter Partner gegenübertrat. Die Fantasie, mit der Bach die satztechnischen Möglichkeiten dieser Konstellation auskostete, die formale Vollendung jeder einzelnen Sonate und ihre ganz spezifische Ausdruckswelt machen diese Stücke zu den ersten „klassischen“ Duosonaten des Geigenrepertoires.
Im satztechnischen Verständnis der Bachzeit handelte es sich freilich um Triosonaten. Da über dem Bass, also der linken Hand des Cembalos, zwei Oberstimmen, die Violine und die rechte Hand, konzertieren, hat man es mit einer der Triosonate analogen Situation zu tun. Unter Bachs Händen multiplizierten sich freilich die Möglichkeiten dieser Konstellation – vom puren Cembalosolo über den strengen Triosatz bis hin zum veritablen Quartett- oder gar Quintettsatz.
Komponiert wurden die Sonaten vor 1725. Im Sommer dieses Jahres nämlich ließ Bach von seinem Neffen Johann Heinrich eine Stimmenabschrift anfertigen, die er eigenhändig um die letzten Sätze der noch unvollendeten sechsten Sonate ergänzte. Offenbar wollte Bach die Sonaten bei seinem Besuch in Dresden im September 1725 mit seinem dortigen Geigerfreund Johann Georg Pisendel spielen und möglicherweise auch im Dezember in Köthen, zusammen mit dem Köthener Konzertmeister Spieß und Fürst Leopold an der Gambe. Zu den Sonaten hat sich nämlich eine Gambenstimme erhalten, die den Cembalobass verstärkt. Komponiert wurden die Stücke sicher vor seinem Amtswechsel nach Leipzig, also vor Mai 1723 am Köthener Hof. Später hat Bach den Zyklus zweimal überarbeitet, wobei die sechste Sonate jeweils eine grundlegende Neufassung erfuhr. Die Fassung letzter Hand aus der 1740er Jahren ist in einer Abschrift seines Schwiegersohns Johann Christoph Altnickel erhalten.
SONATA III E-Dur, BWV 1016
Der Kopfsatz der E-Dur-Sonate verbindet eine vollgriffige Cembalobegleitung, die an Bachsche Streichersätze erinnert, mit der reich verzierten Solostimme eines Corelli-Adagios. Wie in manchen, von den Streichern begleiteten Ariosi in Bachs Kantaten führt das Cembalo ein einziges Sechzehntelmotiv in parallelen Terzen und Sexten während des ganzen Satzes durch die Tonarten, während die Violine in freier „Deklamation“ dazu eine Art gebundenes Rezitativ vorträgt. Die Violinstimme ist freilich stärker verziert und von größeren melodischen Umfang, als es im Falle eines gesungenen Ariosos möglich wäre. Der Effekt ist von erhabener Größe, die würdige Einleitung einer Sonate, die die prächtigste des Sechserzyklus darstellt und von Bachs geigerischen Fähigkeiten beredtes Zeugnis ablegt.
Der zweite Satz kleidet ein für Bach ungewöhnlich galantes Thema, das auch von Telemann stammen könnte, in die Form einer keineswegs komplizierten dreistimmigen Fuge in zwei Teilen. Im zweiten Teil wird ein Mollabschnitt mit gebrochenen Achtelfiguren eingeschoben, mit dem das Fugenthema danach zusammengeführt wird. Dass es am Ende gar in Engführung erscheint, geht fast im singenden Duktus der Musik unter.
Als dritter Satz folgt eine der schönsten lyrischen Eingebungen Bachs, eine Passacaglia über den absteigenden Molltetrachord in cis-Moll. Der viertaktige Bass wird zu Beginn in der linken Hand des Cembalos angeschlagen und von repertierten Achtelakkorden begleitet. Die Violine tritt mit einer unvergesslichen Triolenmelodie hinzu, die sie nach einer Variation an das Cembalo abtritt, während sie selbst die Achtelakkorde übernimmt. Aus diesen drei Bausteinen – dem gleichbleibenden Bass, den Achtelakkorden und den Sechzehnteltriolen – hat Bach in immer neuen dialogischen Varianten einen innigen Zwiegesang entstehen lassen, der an affektiven Höhepunkten schier unerschöpflich ist. Man höre nur den Wiedereintritt des Triolenthemas im Cembalo. Der Satz lässt es verständlich erscheinen, dass Carl Philipp Emanuel Bach noch 1774 über die Violinsonaten seines Vaters schrieb: „Es sind einige Adagii darin, die man heut zu Tage nicht sangbarer setzen kann.“
Ein Halbschluss am Ende des cis-Moll-Adagios bereitet den Einsatz des Finales vor, den man sich glänzender nicht vorstellen könnte: Violine und Cembalo führen ein virtuoses Sechzehntelthema von italienischer Bravura durch die Stimmen. Ein zweites Thema in Triolen wird zuerst von der Violine vorgestellt und gleich von den Sechzehntelmotiven des ersten Themas kommentiert, dann vom Cembalo aufgegriffen und schließlich subtil mit dem ersten Thema überlagert, bis dieses seine glänzende Reprise feiert. Formal ist dieser Satz der fortschrittlichste des gesamten Zyklus, ein Sonatenfinale in des Wortes eigentlicher Bedeutung.
2001:
HISTORISCHES
Die Sonaten und Partiten (recte: Partien) für Violine solo hat Bach 1720 im böhmischen Karlsbad ins Reine geschrieben, als er sich dort im Gefolge des Fürsten Leopold von Anhalt-Köthen aufhielt. Der von familiären und administrativen Pflichten befreite Hofkapellmeister Bach nutzte seinen Urlaub, um sein „Libro primo“, sein „erstes Buch“ mit Geigensonaten zu vollenden: die Sei Solo à Violino senza Basso accompagnato, wie er sie auf dem Titelblatt nannte. Die autographe Reinschrift dieser sechs Werke gehört zu den schönsten und berühmtesten Manuskripten aus Bachs kalligraphischer Feder. Für die ersten fünf Stücke muss es eine heute verlorene Urfassung aus Bachs Weimarer Zeit gegeben haben. Vermutlich hat er sie nach seiner Ernennung zum Weimarer Konzertmeister 1714 komponiert. Er selbst war also der erste Adressat seiner Violinsoli, was ihren erheblichen Aufwand an Doppel- und Akkordgriffen erklärt, denn Bach hatte bei seinem Vater Ambrosius das polyphone Violinspiel deutscher Schule studiert. Außer ihm selbst haben sicher auch der Köthener Konzertmeister und dessen aus Berlin stammende Geigerkollegen die Sei Solo gespielt. Ihre eine Hälfte besteht aus drei ganz unterschiedlich gebauten Suiten, die andere aus Sonaten in der viersätzigen Da Chiesa-Form (Adagio – schnelle Fuge – Andante – Allegrofinale).
Den Zyklus der sechs Sonaten für Violine und obligates Cembalo hat Bach erst als Thomaskantor in Leipzig um 1725 vollendet. Man darf vermuten, dass er sie mit seinem ältesten Sohn Friedemann spielte, als dieser ein Violinstudium bei Graun absolviert hatte. Ein Autograph ist nicht erhalten. In der wichtigsten Abschrift heißen die Werke Sei Suonate à Cembalo certato è Violino Solo, was die Priorität des Cembalos unterstreicht. Sein Part steigert sich von der Zwei- bis zur Vier- oder gar Fünfstimmigkeit und liefert der Violine weit mehr als nur einen gefälligen Klanggrund. Dreistimmige Fugen bestimmen auch hier, wie in den Solosonaten, das Bild der schnellen Sätze, während die langsamen Sätze Cembalo- und Violinklang in satztechnisch freier Weise zu Adagios von unübertroffener Tiefgründigkeit kombinieren.
SONATA III E-Dur, BWV 1016
Die E-Dur-Sonate ist unter den Sonaten mit obligatem Cembalo die prachtvollste: vollstimmig im ersten Satz, galant im zweiten, mit einer Passacaglia als drittem Satz und einem rauschenden Concerto-Finale. Der Eindruck des Orchestralen im Kopfsatz entsteht aus dem vollgriffigen Satz des Cembalos, das ein einziges, kreisendes Motiv in Terzen und Sexten durchführt. Darüber entfaltet sich die Violine in einer Art „Sprechgesang“, einem instrumentalen Arioso, das mit Läufen und anderen Ornamenten angereichert wird. Die Konstellation entspricht dem Anfang von Bachs Soprankantate Weichet nur, betrübte Schatten, wo sich über den sanft wogenden Akkorden der Streicher der Sopran in einem ätherisch hohen Solo entfaltet. Auch motivisch und im frühlingshaft strahlenden Affekt sind die beiden Sätze vergleichbar.
Der zweite Satz kleidet ein für Bach ungewöhnlich galantes Thema in die Form einer unkomplizierten dreistimmigen Fuge in zwei Teilen. Im zweiten Teil wird ein galantes Mollthema eingeschoben und mit dem Fugenthema kombiniert. Als dritter Satz folgt eine der schönsten lyrischen Eingebungen Bachs, eine Passacaglia in cis-Moll über einen absteigenden Bass, den der Cembalist im kurzen Vorspiel in der linken Hand vorgibt, während die rechte Hand nachschlagende Achtelakkorde spielt. Die Violine setzt mit einer Triolenmelodie ein, auf die Sechzehntel in Zweierbindungen folgen. Aus diesen drei Bausteinen – den Achtelakkorden, den Triolen und den Zweierbindungen – hat Bach über dem gleichmäßigen Passacaglia-Bass einen innigen Zwiegesang zwischen Violine und rechter Hand des Cembalos entwickelt, der an affektiven Höhepunkten schier unerschöpflich ist. Der Satz lässt es verständlich erscheinen, dass Carl Philipp Emanuel Bach noch 1774 über die Violinsonaten seines Vaters schrieb: „Es sind einige Adagii darin, die man heut zu Tage nicht sangbarer setzen kann.“
Ein Halbschluss bereitet den Einsatz des Finales vor, den man sich glänzender nicht vorstellen könnte: Ein rauschendes Sechzehntelthema von italienischer Bravura wird durch die drei Stimmen geführt. Im Mittelteil wird es von einem Triolenthema vorübergehend verdrängt, behauptet sich aber im fast durchführungsartigen Wettstreit, dem die rhythmische Spannung zwischen Triolen und Sechzehnteln seinen Reiz verleiht. Die Reprise des Hauptteils beschließt den Satz.