Quartett für Klarinette, Violine, Violoncello und Klavier (1938)
Werkverzeichnisnummer: 966
1. Mäßig bewegt
2. Sehr langsam
3. Mäßig bewegt – lebhaft – ruhig bewegt – sehr lebhaft
Im Laufe der 1930er Jahre vollzog sich im Stil Hindemiths der entscheidende Wandel vom aufmüpfigen Experimentieren der 20er Jahre zu einem Klassizismus moderner Prägung. Ort dieser Wandlung war die Kammermusik, speziell das Sonatenwerk, ein Zyklus von Sonaten für jedes Orchesterinstrument und Klavier, den Ulf Rodenhäuser und seine Kollegen vom Ensemble Villa musica übrigens in einer preisgekrönten Gesamtaufnahme vorlegten. In der Mitte dieser Serie, die Hindemith von 1936 bis 1943 beschäftigte (Sonate für Tuba erst 1955), entstand das Quartett für Klavier, Klarinette, Violine und Violoncello, ein in jeder Hinsicht ungewöhnliches Werk. Es war Hindemiths einziges Ensemblestück in zehn Jahren und knüpfte an sein frühes Klarinettenquintett von 1923 an. Dessen schwärmerische und grelle Musiksprache wird in dem Quartett, auch bedingt durch Hindemiths Klaviersatz, in ein strengeres Musizieren verwandelt.
„Die Kammermusikwerke, die der Komponist in jenen Jahren schrieb, zeigen romantische, selbstbekennerische Züge. Die Harmonik ist Ausdruck des objektivierten Empfindens, wenn sie sich auch strukturell von der überlieferten entfernt hat. Anstelle der Quart- und Quintschritte im Baß bevorzugt Hindemith Sekundgänge. Anstelle des herkömmlichen Terzenaufbaues der Akkorde finden wir Zusammenklänge aus übereinander geschichteten Quarten, untermischt mit Quinten, Terzen und Sekunden. Der Durdreiklang, fast nur mehr am Ende von Formabschnitten erscheinend, hat nach den gehäuften Dissonanzen besondere Leuchtkraft. Er symbolisiert Ruhe, Entspannung, Heimkehr. Auch die Melodik bevorzugt Quarten und Sekunden“. (Gustav Scheck)
2002
PAUL HINDEMITH
Quartett (1938)
Paul Hindemith, der Bürgerschreck der Zwanziger Jahre, tritt uns in seinem Klarinettenquartett von 1938 geläutert gegenüber. Das zwischen Kirchentonarten und Dur-Moll-Tonalität schwankende Werk wirkt wie ein elegischer Abgesang auf eine friedliche Epoche, die 1938 für jeden erkennbar zu Ende ging. Hindemith erlebte dieses Jahr zur Hälfte in den USA, zur Hälfte in der Schweiz, wohin er endlich nach Jahren der Anfeindung durch das Nazi-Regime im Juni 1938 emigrierte. Das Quartett ist das unmittelbare Zeugnis der Emigration: begonnen im März in New York, fortgeführt im April in Hamburg, vollendet im Juni im schweizerischen Chandolin. Man mag aus der elegischen Stimmung Abschiedsgedanken herauslesen, aber auch ein klares stilistisches Bekenntnis. Im Mai 1938 erlebte Hindemith in Zürich die Uraufführung seiner Oper Mathis, der Maler. Bei deren archaischer, nirgends mehr provokanter Moderne setzt auch das Quartett an.
Es beginnt denkbar einfach: mit einem einstimmigen Klaviersolo. Die Melodie im phrygischen Kirchenton ist das Hauptthema des ersten Satzes, eine Reminiszenz an Hindemiths Volksliedstudien und im Geist des Mathis entworfen. Die Ruhe des Beginns prägt den ganzen Satz und verleiht ihm eine Aura gelassenen Dialogs. Die Geige beantwortet den absteigenden Zug des Hauptthemas in Gegenbewegung, woraus ein Spiel mit auf- und absteigenden Linien entsteht. Im Seiten-thema löst sich der eng verzahnte Dialog in spielerische Gesanglichkeit auf: Repetierte Klavierakkorde bauen eine Bühne für Arabesken der drei Melodieinstrumente, die um ein Triolenmotiv kreisen. Rhythmen und Harmonien verraten, das die Amerikareise des Frühjahrs an Hindemith nicht spurlos vorübergegangen war. In den schnellen Passagen der Schlussgruppe scheinen jazzoide Elemente durch. Die Klarinette eröffnet die Durchführung, die das zweite Thema fugiert verarbeitet. Zwischen Hindemith-typischen kontrapunktischen Verdichtungen scheint immer wieder der lichte Ton des Anfangs durch. Die Reprise, eingeleitet vom Hauptthema im Unisono, bringt einen Kanon zwischen Klarinette und Violine. Nach einem an Mahler erinnernden Zerfleddern des Zusammenhangs erscheint das erste Thema wieder: als Trauermarsch der Klarinette über Pizzicatobegleitung der Streicher. Die Geige antwortet im gleichen Duktus mit dem zweiten Thema. Der Klang entschwebt, bis ein kurzer Klarinetteneinwurf und ein Streicherakkord den Satz beschließen.
Der zweite Satz (Sehr langsam) beginnt da, wo der erste endet: in lichter, hoher Lage. Ein Klarinettensolo, mit den Streichern in zarte Vorhalte verstrickt, skandiert von fernen, bedrohlichen Klavierakkorden – es ist ein Gesang von so schwebender Melancholie, wie ihn auch Hindemith nur einmal geschrieben hat. In scharfem Hell-Dunkel-Kontrast schließt sich ein Mittelteil in finster-verquastem Klang an. Widerhakende Zweierbindungen bauen sich zu bedrohlicher Größe auf, bis das Klavier mit einer herrischen Unisonogeste dem Chor der übrigen Instrumente Stillstand befiehlt. Die Spannung entlädt sich in einer absteigenden Phrase, die mit einem versonnenen Cellosolo endet. Danach lichtet sich der Klang erneut und das Klarinettensolo des Anfangs kehrt variiert wieder. Pizzicato der Streicher und eine neue Arabeske im Klavier verleihen der Szenerie fast etwas Irreales. Immer zarter und schwebender wird der Klarinettengesang, bis er in der Coda vom Kopfmotiv des Mittelteils untermalt wird.
Soli von Klarinette und Geige über einem Marschrhythmus eröffnen das Finale. Der Satz ist in vier unabhängige Abschnitte unterteilt, eine Art Potpourri, dessen Reiz im überraschenden Eintritt des jeweils neuen Satzcharakters liegt. Alle vier Teile sind durch die Themen des Anfangs miteinander verbunden. Dazu gehört ein Synkopenthema, nicht unähnlich den „amerikanischen“ Themen bei Dvorák, das den starren Beginn auflockert. Im deutlich vitaleren zweiten Abschnitt („Lebhaft“) entsteht aus dem Rhythmus der barocken Gigue ein wirbelnder Tanz virtuoser Passagen. Ein dritter „ruhig bewegter“ Abschnitt dient als schattenhaftes Intermezzo vor der wilden Klaviertoccata, die den Schlussteil eröffnet („Sehr lebhaft“). Sukzessive steigern sich in diesem Satz die „modernen“ Anteile: dissonante Überlagerung, Klangballung und Disparates – so als habe Hindemith auskomponieren wollen, auf welche Zerstörungen seine Epoche hinsteuert.