Oktett für Klarinette, Fagott, Horn, Violine, zwei Violen, Violoncello und Kontrabass (1957/58)
Werkverzeichnisnummer: 965
1. Breit – Mäßig schnell
2. Varianten. Mäßig schnell
3. Langsam
4. Sehr lebhaft
5. Fuge und drei altmodische Tänze (Fuge – Walzer – Polka – Galopp)
Paul Hindemiths Schaffen gliedert sich bekanntlich in zwei diametral entgegengesetzte Stilperioden: die experimentelle Frühzeit des “Bürgerschrecks” der 20er Jahre und die akademische Kriegs- und Nachkriegs-periode, in der auch die berüchtigten “Neufassungen” früherer Werke entstanden (Klarinettenquintett, Cardillac u. a. ). Die 30er Jahre bildeten die Zeit des allmählichen, theoretisch untermauerten Stilwandels. Nachdem Villa Musica im September mit der Kammermusik Nr. 1 ein Hauptwerk des frühen Hindemith vorstellte, spielt nun das Ensemble Villa Musica sein letztes Kammermusikwerk: das Oktett.
Es entstand 1957/58 für die Kammermusikvereinigung der Berliner Philharmoniker und wurde am 23. September 1958 in Berlin uraufgeführt. Hatte der junge Hindemith in der Kammermusik Nr. 1 eine klassische Oktettbesetzung durch Fremdkörper wie Akkordeon, Schlagzeug und eine Sirene akustisch verfremdet, um den traditionellen Begriff von Kammermusik zu konterkarieren, so kehrte der alte Hindemith zu einer Hauptgattung eben jener Kammermusik zurück. Im Vergleich zu dem Gattungsmodell – Schuberts Oktett von 1824 – verwendete er 2 Violen statt 2 Violinen (so schon bei Louis Spohr 1814). Darin schlug sich die Vorliebe des Bratschers für sein Instrument nieder, das er bei der Uraufführung des Oktetts auch tatsächlich spielte.
Das neue Werk wurde damals um ein erstaunliches Programm ergänzt: Hindemiths frühen Liederzyklus Des Todes Tod und Strawinskys Kantate, Monteverdis Madrigalzyklus Sestina und Tänze von Attaignant. Im Stilkosmos des späten Hindemith fanden seine frühen Werke ebenso Platz wie die Musik von Zeitgenossen und die damals ganz neue Idee der “Alten Musik”. Etwas von diesem Universalismus liegt auch in der Musik des Oktetts. Die langsame Einleitung des 1. Satzes erinnert an Schuberts Oktett (Finale), verwendet jedoch den barocken Rhythmus einer französischen Ouvertüre, verbunden mit krassen Vorhalten. Der folgende Sonatensatz Mäßig schnell wird durch ein Unisonothema des Tutti eingeleitet. Die beiden Seitenthemen sind deutlich voneinander abgesetzt: eine spielerische Melodie der Geige, die die Bläser aufgreifen, und ein Klarinettengesang über Pizzicato. An die Stelle der Durchführung tritt eine Fuge über ein neues, von den Bässen vorgestelltes Thema. Danach kehren die 3 Themen der Exposition in umgekehrter Reihenfolge wieder.
Der 2. Satz (Mäßig schnell) greift eine Idee aus Schuberts Oktett auf: die Violine führt ein Gesangsthema ein, das die anderen Instrumente eines nach dem anderen als Cantus firmus aufgreifen, während es in immer neuer Weise umspielt wird. Die freie Variationsform, die so entsteht, hat Hindemith durch den Titel Varianten angedeutet. Im 3. Satz (Langsam) entfaltet sich eine weit geschwungene Hornmelodie über kontrapunktischen Figuren der anderen Instrumente. Der Satz ist in seiner Verbindung von kontrapunktischem Stil und quasi-romantischer Stimmung typisch für den späten Hindemith, für den Kontrapunkt ein Bedürfnis nach Klarheit der Aussage erfüllte. Der 4. Satz (Sehr lebhaft) hat Scherzocharakter und enthält den konkretesten Rückbezug des Werkes. Er greift das Thema des 2. Satzes aus Beethovens Streichquartett op. 130 auf, das er durch rhythmische Irritationen und dissonierende Begleitung modern verfremdet. Das Finale ist ein Potpourri über ein Thema, das die Instrumente zu Beginn in gebieterischem Unisono vorstellen. Es wird zunächst in einer gelehrten Fuge ausgeführt, danach in drei “altmodischen Tänzen”, die “gewissermaßen Charaktervariationen” (G. Schubert) des Themas darstellen. Der ironische Ton dieses Finales und der augenzwinkernde Bezug zur Unterhaltungsmusik erinnern an die Stilbrechungen des frühen Hindemith, der im alten letztlich aufgehoben war.