Sonate Nr. 2 a-Moll für Violine solo, BWV 1003
Werkverzeichnisnummer: 95
1. Grave
2. Fuga
3. Andante
4. Allegro
Die zweite Solosonate beginnt wie die erste: mit einem stark verzierten langsamen Satz, an den sich eine konzertante Fuge anschließt. Die Verzierungstechnik, die Bach im Grave anwandte, ist die der Corellischule: weit ausschwingende Läufe, Triller und Doppelschläge, die das Melodiegerüst und die Kadenzen fast bis zur Unkenntlichkeit umschreiben. Während Corelli und seine Schüler solche Verzierungen improvisierten, notierte Bach sie minutiös aus, was ihm die Zeitgenossen als Eingriff in die Freiheit des Interpreten auslegten: „Alles, was man unter der Methode zu spielen verstehet, drücket er in eigentlichen Noten aus.“ (Scheibe) Im komplizierten harmonischen Zusammenhang eines Bach-Adagios freilich, zumal im polyphonen Satz auf einer Solovioline, war es unerlässlich, die Verzierungen auszuschreiben. Im Grave der a-Moll-Sonate drücken sie so sprechend und eindringlich den Affekt der Trauer aus, dass man keine Note missen möchte.
Die anschließende Fuge ist aus ganzen acht Tönen entwickelt, ein Kunstgriff, den Bachs Kollege Johann Mattheson in seinen musikkritischen Schriften als Wunderwerk des Kontrapunkts pries: „Wer sollte wohl dencken, daß diese achte kurtze Noten so fruchtbar wären, einen Contrapunct von mehr als einem Bogen, ohne sonderbare Ausdehnung, gantz natürlich hervorzubringen? Und dennoch hat solches der künstliche, und in dieser Gattung besonders glückliche Bach jedermann vor Augen geleget: ja, noch dazu den Satz hin und wieder rücklings eingeführet.“ Die Technik, das Thema „rücklings einzuführen“, also in Umkehrung, verleiht der zweiten Hälfte der Fuge ein dramatisches Spannungsmoment. An eher unauffälliger Stelle, kurz vor der Modulation nach C-Dur, tritt die Umkehrung zum ersten Mal auf, was sofort einen lebhaften Einspruch der Originalgestalt provoziert. Im folgenden lösen Originalgestalt und Umkehrung einander beständig ab, sogar auf engstem Raum, wobei die Umkehrung das letzte Wort behält. Für Bach und seine Zeitgenossen, die ihre Formen in Analogie zur forensischen Rede nach der antiken Rhetorik entwarfen, war dieses Spiel mit der confutatio und confirmatio, der Widerlegung und Bestätigung des Hauptgedankens, Grundlage ihrer Formensprache. In der a-Moll-Fuge hat Bach dieses Spiel auf die Spitze getrieben, indem er auch noch den chromatischen Nebengedanken der Fuge umkehrte. Dieses zweite, chromatische Motiv erinnert an die Stelle „Denn ich habe dich erlöset“ aus Bachs Motette Fürchte dich nicht, was wohl auch den Affekt der Fuge bezeichnet. Konzertante Episoden lockern den strengen Kontrapunkt von Haupt- und Seitengedanken auf.
Mit dem C-Dur-Andante hat Bach nicht nur einen seiner schönsten langsamen Sätze geschaffen – eine idyllische Aria über gleichmäßigen Achteln -, sondern auch eine ebenso einfache wie effektvolle Rollenverteilung auf der Geige gefunden: hier Melodie auf den oberen, dort der Bass auf den unteren Saiten. Ebenso einfach ist die Klangidee des Finales: eine breitflächige Umschreibung des Grundtons in immer wieder Dreiklangsbrechungen auf den Tönen a und e. Die statische Harmonik und die Motorik der ewig gleichen Sechzehntel lenken die Aufmerksamkeit ganz auf das Passagenspiel des Solisten.