Sonate Nr. 1 h-Moll für Violine und obligates Cembalo, BWV 1014
Werkverzeichnisnummer: 93
1. Adagio
2. Allegro
3. Andante
4. Allegro
Die sechs Sonaten für Violine und obligates Cembalo, BWV 1014-1019
Die “Sei Sounate à Cembalo certato è Violino Solo”, wie sie in der frühesten authentischen Quelle genannt werden, sind Bachs bedeutendster Kammermusikzyklus, gewissermaßen sein kammermusikalisches Vermächtnis an die Nachwelt. Es waren die ersten Violinsonaten der Musikgeschichte, in denen das Tasteninstrument sich aus der Rolle der akkordischen Begleitung im Basso continuo löste und der Violine als gleichberechtigter Partner gegenübertrat. Die Fantasie, mit der Bach die satztechnischen Möglichkeiten dieser Konstellation auskostete, die formale Vollendung jeder einzelnen Sonate und ihre ganz spezifische Ausdruckswelt machen diese Stücke zu den ersten “klassischen” Duosonaten des Geigenrepertoires.
Im satztechnischen Verständnis der Bachzeit handelte es sich freilich um Triosonaten. Da über dem Bass, also der linken Hand des Cembalos, zwei Oberstimmen, die Violine und die rechte Hand, konzertieren, hat man es mit einer der Triosonate analogen Situation zu tun. Unter Bachs Händen multiplizierten sich freilich die Möglichkeiten dieser Konstellation – vom puren Cembalosolo über den strengen Triosatz bis hin zum veritablen Quartett- oder gar Quintettsatz.
Komponiert wurden die Sonaten vor 1725. Im Sommer dieses Jahres nämlich ließ Bach von seinem Neffen Johann Heinrich eine Stimmenabschrift anfertigen, die er eigenhändig um die letzten Sätze der noch unvollendeten sechsten Sonate ergänzte. Offenbar wollte Bach die Sonaten bei seinem Besuch in Dresden im September 1725 mit seinem dortigen Geigerfreund Johann Georg Pisendel spielen und möglicherweise auch im Dezember in Köthen, zusammen mit dem Köthener Konzertmeister Spieß und Fürst Leopold an der Gambe. Zu den Sonaten hat sich nämlich eine Gambenstimme erhalten, die den Cembalobass verstärkt. Komponiert wurden die Stücke sicher vor seinem Amtswechsel nach Leipzig, also vor Mai 1723 am Köthener Hof. Später hat Bach den Zyklus zweimal überarbeitet, wobei die sechste Sonate jeweils eine grundlegende Neufassung erfuhr. Die Fassung letzter Hand aus der 1740er Jahren ist in einer Abschrift seines Schwiegersohns Johann Christoph Altnickel erhalten.
SONATA I h-Moll, BWV 1014
Bach hat sechs große Instrumentalwerke in h-Moll geschrieben. Vier davon, die Ouvertüre nach Französischer Art für Cembalo (BWV 831), die h-Moll-Flötensonate (BWV 1030), die 2. Orchestersuite (BWV 1067) und Präludium und Fuge BWV 544, sind Werke der mittleren Leipziger Zeit (1730er-Jahre). Nur die beiden h-Moll-Werke unseres Programms gehören in die Weimarer und Köthener Jahre zwischen 1714 und 1720. Allen Stücken gemeinsam ist die Vorliebe für eine melodische Wendung: ein Umkreisen der Quint mit anschließendem Abstieg zur Kadenz. Im zweiten Satz der h-Moll-Violinsonate mit Cembalo hat Bach diesen Gedanken zuerst formuliert. Er bildet dort das ebenso robuste wie einprägsame Fugen-thema, Urbild vieler Themen aus den späteren h-Moll-Sonaten und -Suiten. Auch der h-Moll-Partia für Violine solo liegt jener um fis kreisende Gedanke zugrunde, der für Bach eine Art “Urthema” gewesen sein muss.
Das Thema hängt eng mit dem “unlustigen” Charakter der Tonart h-Moll zusammen, wie er von Bachs Zeitgenossen beschrieben wurde. Im Eingangssatz der h-Moll-Sonate für Geige und Cembalo wird dieser Tonartcharakter eindrucksvoll deutlich: Das Cembalo eröffnet mit einem vollgriffigen Vorspiel aus Seufzerfiguren in Terzen und Sexten über einer Dreiklangsfigur im Bass. Die Violine setzt darüber in Sopranlage mit lang ausgehaltenen Tönen und kurzen angehängten Gesten ein, bevor sie die Terz- und Sextparallelen in Doppelgriffen übernimmt. Der Dialog zwischen Cembalo und Geige entfaltet sich über dem ständig wiederkehrenden Bassmotiv mit fantastischer Freiheit. Man wird an die Eingangssätze mancher Bachkantate erinnert.
Die folgende Fuge über das h-Moll-“Urthema” ist ein Da-Capo-Satz: der Anfangsteil wird am Schluss wiederholt. Im Mittelteil verwandelt sich das Fugenthema in galanten Gesang. Ebenso kantabel-modern wirkt das D-Dur-Andante des dritten Satzes, ein von “sprechenden” Pausen durchsetzter Gesang in Terzen und Sexten. Das Finale bezieht seine motorische Energie aus der Tonrepetition des Themas, das vom Cembalo gleich mit den Dreiklangsbrechungen des Kontrasubjekts umspielt wird. Im zweiten Teil wandern Dreiklänge und Tonrepetitionen in die linke Hand, was dem Satz einen fast schon cholerischen “Drive” verleiht, der für Bachs Finali nicht untypisch ist.