Partita d-Moll, BWV 1004 | Kammermusikführer - Villa Musica Rheinland-Pfalz

Johann Sebastian Bach

Partita d-Moll, BWV 1004

Partita Nr. 2 d-Moll für Violine solo, BWV 1004

Besetzung:

Werkverzeichnisnummer: 82

Satzbezeichnungen

1. Allemanda

2. Corrente

3. Sarabande

4. Giga

5. Ciaccona

Erläuterungen

Nicht nur die Chaconne, mit der Bach seine Partia seconda krönte, sondern auch die ersten vier Sätze gehören zum Tiefgründigsten, was er geschrieben hat. Am Anfang seiner “Inventio” (wir würden von Eingebung sprechen) stand hier eine Akkordfolge, wie man sie am reinsten zu Beginn der Sarabanda hören kann: eine spannungsvoll variierte d-Moll-Kadenz. Sie liegt allen Sätzen von der Allemanda bis zur Ciaccona zugrunde und wird lediglich rhythmisch und melodisch variiert. Bach ließ hier das altdeutsche Prinzip der “Variationensuite” wieder aufleben, um der Partia seconda die größtmögliche Einheitlichkeit des Affekts zu verleihen.

Es ist ein Affekt der Trauer, nicht der Klage, denn die Harmonik hellt sich immer wieder nach Dur auf. Gleich zu Beginn der Allemanda mündet der Trauerduktus in tröstliches Dur. Im italienisch fließenden Melos dieses Satzes dominieren ausdrucksvolle Intervalle (verminderte Septim, große und kleine Sext). Sie suggerieren musikalisch-rhetorische Figuren wie Exclamatio und Saltus duriusculus.

Die Corrente umschreibt das Grundthema der Suite in kraftvollen Triolen, die Sarabanda in schmerzlich dissonanten Akkorden, die sich immer wieder in Läufe auflösen. Die Giga wird von Laufkaskaden bestimmt, die so italienisch klingen, als habe der Geiger Bach bei Corelli Unterricht genommen.

Die berühmte Chaconne, mit der die Partia schließt, hat Bach wohlweislich Ciaccona genannt. Es handelt sich um eine subtile Verarbeitung der italienischen Ciaccona, die um 1600 als obszöner Tanz aus Spanien nach Italien kam, im Frühbarock zum Lieblingsbass der Geiger avancierte und bis zu Bach schon mehrere Metamorphosen erlebt hatte. In Frankreich, dem Bach in vielerlei Hinsicht nahestand, wurde aus der Ciaccona die Chaconne, also aus einem Tanzstück in Dur ein Ausdrucksstück für Cembalo oder Laute in Moll bzw. aus einem kurzen Allegrosatz für Geiger eine pompöse Ballettmusik für Orchester. All dies schwingt in Bachs Ciaccona mit: die Tradition der Lauten- und Cembalochaconne französischer Provenienz, die italienische Ciaccona für eine oder zwei Violinen und Basso continuo, schließlich auch die deutsche Passacaglia für Violine solo, wie man sie bei Biber findet. Bach hat alle diese Einflüsse in einem genial mehrschichtigen Variationensatz zusammengefasst, der in drei Abschnitte gegliedert ist.Jeder der drei Teile beginnt ruhig und konzentriert, um sich in wohl überlegter Steigerung immer fantastischer zu gebärden, bis der Umschlag in den nächsten Abschnitt erfolgt. Teil I beginnt im Rhythmus der Ciaccona, deren Bass dem Anfangsthema zugrundeliegt. Im Laufe der Variationen verwandelt sich der Ciaccona-Bass unversehens in den Passacaglia-Bass, dann in den chromatischen Lamentobass. Im Durmittelteil löst sich die Harmonik von diesen italienischen Bassformeln und frönt den Affekten eines Majeur im französischen Stil. Am Ende kehren die Molltonart, der Passacaglia- und Ciaccona-Bass und die italienische Strenge wieder, ganz am Ende sogar das Anfangsthema, das den Riesenbogen der Form abrundet.

Spieltechnisch hat Bach hier einen Musterkatalog an Phrasierungs- und Grifftechniken entrollt, der bis ins 19. Jahrhundert seinesgleichen suchte. Kaum zu analysieren ist dagegen die atemberaubende Dynamik und die erschütternde Tragik, die Bachs Chaconne zu dem machen, was sie ist. Die Inventio und Elaboratio des größten barocken Komponisten sind nirgends zwingender und konzentrierter zu erleben als in diesem Stück.