Sextett Es-Dur für zwei Violinen, Viola, Violoncello, Kontrabass und Klavier (Mailand 1832)
Werkverzeichnisnummer: 698
1. Allegro
2. Andante
3. Finale. Allegro con spirito
Michail Glinka gilt als der „Vater der russischen Musik“. Diese Bedeutung gewann er vor allem dank seiner Opern (Ein Leben für den Zaren, Ruslan und Ludmilla) und dank seiner Lieder, in Russland Romanzen genannt. Seine Kammermusik hat man demgegenüber lange vernachlässigt, ja der Komponist César Cui meinte gar, sie bestehe nur aus „jugendlichen Versuchen“. Dieser Eindruck täuscht, denn während seines fast dreijährigen Aufenthaltes in Italien schuf Glinka neben Divertimenti über italienische Opernthemen auch zwei vollgültige romantische Kammermusikwerke: das Trio Pathétique und das Klaviersextett.
Kammermusik spielte bereits im frühen Werdegang des Komponisten eine entscheidende Rolle: Ein Quartett für Klarinette und Streicher des Schweden Crusell wurde für den Zehnjährigen zum Erweckungserlebnis. Bis dahin hatte er kaum mehr von der Welt gehört als das Vogelgezwitscher um das Haus seiner Großmutter oder die Kirchenglocken von Smolensk. Nun tauchte er tief in die Musik seiner Zeit ein, nahm Klavierstunden bei John Field, entwickelte seine eigene romantische Tonsprache und ging auf Reisen. In Italien traf er Felix Mendelssohn, in Paris Héctor Berlioz. Seine letzte Reise führte ihn 1857 nach Berlin, wo er unerwartet verstorben ist.
Das wichtigste Reiseziel in Glinkas Leben war Italien, wo er sich von 1830 bis 1833 aufhielt. Im April 1830 reiste er in Begleitung des Tenors Iwanow gen Süden und sorgte schon in deutschen Hotels mit dem Singen von Ensembles aus Webers Freischütz für Furore. Diese Begeisterung für die Oper setzte sich in Mailand fort, das er nicht zufällig zum Wohnort wählte: Allabendlich besuchte er die Vorstellungen in der Scala, wo er etwa im Dezember 1830 die Uraufführung von Donizettis Anna Bolena erlebte. Er fand Zugang zu den Mailänder Theaterzirkeln und freundete sich mit Vincenzo Bellini an, dem romantischen Genie unter den Belcanto-Komponisten.
Von dem Eindruck, den Bellinis Musik auf ihn machte, zeugen fast alle Themen im großen Es-Dur-Sextett für Klavier, Streichquartett und Kontrabass, das Glinka 1832 in Mailand komponierte und auch publizierte. Daher der italienische Originaltitel. Das Werk knüpft in Besetzung und Stil an die seinerzeit viel gespielten Klavierquintette von Johann Nepomuk Hummel an, die sich auch Franz Schubert zum Vorbild für sein Forellenquintett nahm. Glinka erweiterte die Besetzung um eine zweite Violine, wodurch der Klang noch orchestraler wirkt.
Tatsächlich hebt das erste Allegro so energisch an wie ein Klavierkonzert: Mächtige Es-Dur-Akkorde des Klaviers im Marschrhythmus, dann eine erste virtuose Passage, martialische Antwort der Streicher. So könnte auch eine Opernszene beginnen, und tatsächlich macht sich schon im achten Takt schönster Belcanto-Gesang breit: Repetierte Akkorde der rechten Hand begleiten ein typisches, italienisches Opernthema, das der Pianist an die erste Geige weiterreicht. Verführerisch breitet es sich über das gesamte Ensemble aus und zieht, nur von kurzen Forte-Einwürfen unterbrochen, seine Kreise. Eine zweite, noch schönere Arienmelodie wird vom Cello angestimmt und von den anderen Streichern aufgegriffen – das Seitenthema. Erst danach gewinnt der Pianist Raum für seine obligatorischen Solopassagen. Sie beginnen leicht und prickelnd über gezupften Saiten, werden allmählich gesteigert und enden mit Fortissimo-Bravour. Gespeist aus diesem reichen melodischen Material entfaltet sich der Rest des Satzes als große Belcanto-Szene, nur gelegentlich unterbrochen vom Pathos des Anfangs, dem Energico-Thema des ersten Taktes.
Das Andante hätte kein Italiener schöner schreiben können als der Russe Glinka: Serenadenstimmung auf der Piazza! Aufsteigende G-Dur-Akkorde, kurz abgesetzt, danach weiches Legato und waghalsige Verzierungskunststücke im Stile einer Pasta oder Malibran. Die Streicher greifen das Thema auf – natürlich im Pizzicato. Im Mittelteil lässt sich das Cello auf ein verliebtes e-Moll-Duett mit der ersten Geige ein, später singen auch die beiden Geigen ein kleines Liebesduett in h-Moll, ja sogar die Bratsche darf sich am allgemeinen Säuseln und Singen beteiligen, bevor das erste Thema wiederkehrt und attacca in den letzten Satz hinüberleitet.
Dieses Finale hebt eigenwillig an: mit chromatischen Läufen in der tiefen Klavierlage (Allegro con spirito). Über g-Moll und B-Dur wird endlich Es-Dur erreicht – im resoluten Klavierthema, das die Streicher sofort aufgreifen. Es erinnert an Cherubinos Non so più und das Kopfthema der großen g-Moll-Sinfonie von Mozart, ist aber viel dramatischer und ausladender als diese beiden Mozartmelodien. Das singende zweite Thema gehört wieder der Welt des Belcanto an: Über den typischen Opern-Begleitfiguren der Streicher stimmt das Klavier leggiero e con grazia die chromatischen Legatolinien einer Primadonna an, worauf das Cello antwortet wie der Tenor im Liebesduett. Nach einer langen Steigerung con anima e grazia schließt das Sextett, wie es sich für eine imaginäre Opernszene gehört: mit einer Stretta (più mosso ed animato)