„Divertimento Brillante“ sopra alcuni motivi della Sonnambula del Monsieur Bellini
Werkverzeichnisnummer: 693
1. Larghetto
2. Moderato (Sovra il sen)
3. Allegretto (Ah vorrei trovar)
4. Andante cantabile (An non credea)
5. Vivace
2003
MICHAIL GLINKA
Divertimento brillante
Michail Glinka, der Vater der russischen Musik, reiste 1830 nach Italien und blieb dort für drei Jahre. Bevor er gen Süden, nach Rom und Neapel weiterfuhr, war Mailand die erste Station seines Aufenthalts. Glinka feierte dort auf gut katholische Art Natale und konnte sich gleich am zweiten Weihnachtsfeiertag 1830 ins wichtigste Wintervergnügen der Mailänder stürzen: in die Opernsaison. In der Stadt des Hl. Ambrosius wurden Carnevale und damit die Stagione der Oper nach ambrosianischem Ritus gefeiert, d.h. er begann früher als andernorts, am zweiten Weihnachtsfeiertag, und endete später, am Sonntag nach Aschermittwoch. Am 26. Dezember begaben sich die Milanesi mit der gleichen Feierlichkeit, mit der sie noch heute die Eröffnungspremiere an der Scala begehen, eben dorthin oder ins Teatro Carcano. Am 26.12.1830 war Glinka unter ihnen, und er erlebte gleich in seinem ersten Mailänder Karneval die Uraufführungen zweier Belcanto-Klassiker: der Anna Bolena von Donizetti und der Sonnambula von Bellini.
„Kann es einen besseren Test für den wahren gesanglichen Ausdruck geben als das pathetische „Ah non credea!?“ fragte noch 1889 George Bernard Shaw, als er in London wieder einmal mit Begeisterung Bellinis Sonnambula gehört hatte. Der damals schon mehr als 50 Jahre alte Klassiker galt noch immer als Prüfstein reinen Belcantos. Umso mehr muss es den Russen Glinka gereizt haben, die ausdrucksstarken vokalen Linien der Oper auf die Tasten des Klaviers zu übertragen. Was die Primadonna Pasta in der Titelrolle der zarten Schlafwandlerin Amina und der Tenor Rubini in der Rolle ihres zu Unrecht eifersüchtigen Verlobten Elvino an Kunst vollbrachten, grenzte für die Mailänder an ein Wunder. So drehte sich auch im Hause der reichen Anwaltsfamilie Branca alles um Pasta und Bellini (musikalisch wie kulinarisch), und eben dort hielt sich als bestaunter russischer Gast auch Glinka auf. Für die Brancas (denen wir den Fernet Branca verdanken) bearbeitete er zunächst eine Serenade über Donizettis Anna Bolena, bevor er vom Verleger Ricordi ermuntert wurde, auch La Sonnambula in ein Divertimento brillante für Kammerensemble zu verwandeln. Den Klavierpart dieses Sextetts schrieb er für seine italienische Meisterschülerin Signorina Pollini, die er in höchsten Tönen lobte, die Streicherstimmen für die Solostreicher des Scala-Orchesters. Auch ihre Kunst begeisterte den Russen, der durch ein Solo des Bratschisten Rolla zu Tränen gerührt wurde.
Rührung im Wechsel mit überschäumender Brillanz ist denn auch der Hauptzweck des Divertimento brillante sopra alcuni Motivi della Sonnambula del Mo. Bellini, zu deutsch: „Brillantes Divertimento über einige Motive der Schlafwandlerin von Herrn Bellini“. Glinka suchte sich drei Hauptnummern heraus und versah sie mit einer langsamen Einleitung, virtuosen Zwischenspielen und einem rauschenden Finale. Die Arien selbst hat er fast unangetastet gelassen, wobei die Singstimme stets dem Klavier zufällt, während die Streicher die Orchesterstimmen und die Choreinwürfe ausführen.
Die drei Nummern bezeichnen drei Stadien der Handlung: Aminas Vorfreude auf die Hochzeit mit Elvino in ihrer Cavatina Sovra il sen la man mi posa, dann ihre glückliche Vereinigung mit dem Verlobten im Duett A vorrei trovar parola a spiegar com?io t?adoro. Nach diesen beiden Teilen, die quasi als Allegro und Scherzo fungieren, folgt an Stelle eines Adagios die Arie der Sonnambula Ah non credea mirare si presto estinto aus dem Schlussbild. Es ist jener Probestein pathetischen Ausdrucks, den Shaw erwähnte: Die zarte Schlafwandlerin beklagt in herzerweichenden Trauertönen den Verlust ihrer großen Liebe Elvino, der, durch eine Intrige getäuscht, sie fälschlich der Untreue bezichtigte. Amina singt die Arie in Trance, schlafwandelnd, was die Wirkung auf den dabeistehenden Elvino noch erhöht. Er erkennt ihre Unschuld, und die beiden werden nun doch glücklich vereint. Es folgt die strahlende Stretta, die Glinka im Bellini-Tonfall nachschob. 1832 wurde sein Divertimento bei Ricordi mit großem Erfolg gedruckt.