Bläserquintett Nr. 1 für Flöte, Oboe, Klarinette, Fagott und Horn (1948)
Werkverzeichnisnummer: 650
1. Andante tranquillo – Allegro assai
2. Presto – Trio. Un poco più lento
3. Tema con variazioni
4. Tempo alla marcia francese
Der aus Le Mans stammende Komponist Jean Françaix hat wie kein Zweiter die französische Bläserkammermusik auf ihre amüsanteste Formel gebracht. Als gerade mal 20-jähriger wurde er nach dem Sensationserfolg seines Klavierkonzerts vom Mainzer Musikverlag B. Schott’s Söhne „unter seine Fittiche genommen“, wie er selbst sagte. „Ich konnte dank ihm ohne Rast komponieren, zum Vergnügen der einen, zum Missvergnügen der anderen. Man hat mir den Stempel „leichtfertiger Komponist“ aufgedrückt, während ich doch jede Note streng überwache, die aus meiner Feder kommt.“
Dieser Satz, an die Kritiker seines leichten, eingängigen Stils gerichtet, offenbart bereits etwas vom selbstironischen, humorvollen Wesen des Komponisten. Auch die folgende Selbstcharakteristik ist in diesem Tonfall geschrieben: „Die Tatsache, dass ich in Le Mans, der Stadt des 24-Stunden-Rennens, geboren wurde, dürfte den übersättigten Leser wohl kaum interessieren – allerhöchstens, daß Le Mans von einer prächtigen Kathedrale überragt wird, die mir als Anregung zu einem ‚fantastischen‘ Oratorium, der Apocalypse selon St. Jean, gedient hat. Mein Vater besaß die Ausgeglichenheit und den Eigensinn der Menschen im Norden Frankreichs. Meine Mutter hingegen hatte, obgleich in Le Mans geboren, ein feuriges Temperament und entstammte einer lothringischen Familie. Wie sich das gehört, habe ich von beiden etwas mitbekommen: Das Feuer wirft den Schein auf mein ansonsten ruhiges Gemüt. Mein einziger ‚Leistungsnachweis‘ ist ein erster Preis bei einem Klavierwettbewerb am Pariser Konservatorium – was ja nicht gerade viel ist. Verschiedene Orden zieren meine Brust, doch ist auch dies in Frankreich nichts Außergewöhnliches. Meine Lehrerin, Nadia Boulanger, hat sich stets vergeblich bemüht, mir Harmonie und Kontrapunkt oder gar das Schreiben von Fugen beizubringen. Um aber ihren Ruf zu wahren, pflegte sie zu sagen, ich würde dies alles instinktiv beherrschen. Doch will ich ehrlich sein: Beim Komponieren sind die schönen Theorien das allerletzte, woran ich denke. In erster Linie sind es nicht die ‚gedanklichen Autobahnen‘, denen mein Interesse gilt, sondern die ‚Waldwege‘. Den Freunden gerader Linien aber sei gesagt: Obgleich ich wohl in der Lage bin, meine Werke vorzutragen und zu dirigieren, bin ich doch seit meiner frühesten Jugend vom Komponieren wie besessen. Ein leeres Blatt, auf dem allmählich das Werk entsteht – welch ein Sinnenrausch! Seinem persönli- chen Gefängnis entfliehen zu können – welch Privileg! Und dies ganz ohne Risiko: Denn sollte sich die Botschaft einmal als wertlos erweisen, so werde ich nicht mehr auf dieser Welt sein. Gott wird mich trösten – wenn er gewillt ist, mich zu sich zu nehmen.“
Längst hat sich die „Botschaft“ des 1. Bläserquintetts von Jean Françaix, dem wir jenes ironische Selbstporträt verdanken, als wertvoll erwiesen. Das 1948 komponierte Stück ist ein Klassiker des Bläserquintett-Repertoires, ein überaus dankbares Stück, das freilich in seiner Entstehungszeit kurz nach dem Krieg als kaum spielbar galt. Françaix berichtete: „Für meine französischen Holzbläser-Freunde habe ich 1948 das Quintett Nr. 1 mit hohen Schwierigkeitsgraden komponiert. Aber es war ein Hindernislauf mit zu hohen Hindernissen – sechs Jahre lang hat sich niemand die waghalsige Interpretation zugetraut.“ Schließlich wagte sich das Bläserquintett des Pariser Nationalorchesters doch an die Noten und brachte sie 1954 in Paris zur Uraufführung.
In seiner unprätentiösen Anlage und den witzigen Pointen ist das Quintett ein typischer Françaix. Jeder der vier Sätze folgt einem klassischen Formmodell, das freilich persifliert wird. Auf die pathetische langsame Einleitung folgt ein respektlos heiteres Allegro. Das Scherzo spielt in den Rahmenteilen mit Staccato-Synkopen und Anklängen an den Till Eulenspiegel von Richard Strauss, während der Mittelteil eine impressionistisch träumerische Episode ist. Das schöne Oboenthema des Andante wird variiert, wobei zwei der fünf Variationen wieder burschikos über die Stränge schlagen. Das Finale hat Francaix selbst als „Marcia francese“, als französischen Militärmarsch bezeichnet. Allzu ernst scheint der junge Komponist drei Jahre nach dem Krieg den französischen Militarismus nicht genommen zu haben. Dem Charme seiner Musik kann man sich jedenfalls kaum entziehen. Mal zielt sie auf blendende Virtuosität ab (Allegro), mal auf humorvolle Charakterisierungskunst (Variationen), immer aber auf einen fantastisch reichen und klangschönen Bläsersatz. Françaix hat hier, wie so oft, die Bläserkammermusik auf ihre amüsanteste Formel gebracht.