Aria mit 30 Veränderungen (Goldberg-Variationen), BWV 988
Werkverzeichnisnummer: 57
ARIA
VARIATIO 1
VARIATIO 2
VARIATIO
3. Canone all’Unisono
VARIATIO 4
VARIATIO 5 VARIATIO
6. Canone alla Seconda
VARIATIO 7
VARIATIO 8
VARIATIO
9. Canone alle Terza
VARIATIO 10. Fughetta
VARIATIO 11
VARIATIO 1
2. Canone alla Quarta
VARIATIO 13 VARIATIO 14
VARIATIO 1
5. Canone alla Quinta (Andante)
VARIATIO 1
6. Ouverture
VARIATIO 17
VARIATIO 1
8. Canone alla Sesta
VARIATIO 19
VARIATIO 20
VARIATIO 2
1. Canone alla Settima
VARIATIO 2
2. Alla breve
VARIATIO 23
VARIATIO 2
4. Canone all’Ottava
VARIATIO 25
VARIATIO 26
VARIATIO 2
7. Canone alla Nona
VARIATIO 28
VARIATIO 29
VARIATIO 30. Quodlibet
ARIA
Johann Sebastian Bach
Goldbergvariationen, BWV 988
Sein einziges gedrucktes Variationenwerk für Cembalo nannte Johann Sebastian Bach in nicht zu unterbietendem Understatement schlicht Clavier-Übung und fügte auf dem Titel des Erstdrucks folgende ausführliche Erklärung hinzu:
Clavier-Übung
bestehend
in einer
ARIA
mit verschiedenen Veraenderungen
vors Clavicimbal
mit 2 Manualen.
Denen Liebhabern zur Gemüths-
Ergetzung verfertiget von
Johann Sebastian Bach.
Heute ist das Opus unter seinem populären Beinamen Goldberg-Variationen bekannt, was auf einen Bericht des ersten Bach-Biographen Johann Nikolaus Forkel zurückgeht. Bach habe das Werk – wie schon eingangs erwähnt – für seinen Gönner Graf Hermann Carl von Keyserlingk in Dresden geschrieben, der an Schlaflosigkeit litt. Um ihm die Zeit in schlaflosen Nächten zu vertreiben, habe sich Keyserlingk ein paar Stücke gewünscht, „die so sanften und etwas muntern Charakters wären“.
Sein Hauscembalist, der damals noch jugendliche Bach-Schüler Johann Gottlieb Goldberg (1727-1756), sollte sie ihm vorspielen. Zum Dank für das vollendete Werk habe Bach einen königlichen Lohn erhalten: „einen goldenen Becher, welcher mit hundert Louisd’or angefüllt war“, das höchste Honorar, das er jemals für eines seiner Werke entgegennehmen durfte.
Der Lohn war dem Rang der Variationen angemessen: Aus dem eher unscheinbaren Wunsch des Kurländischen Grafen nach „etwas muntern“ Cembalostücken ließ Bach einen monumentalen Variationenzyklus in 30 Teilen erwachsen – die bedeutendsten „Claviervariationen“ vor Beethovens Diabelli-Variationen.
Fürs Clavier, nicht Klavier„Clavier“ muss man in diesem Falle mit C schreiben, wie es Bach im Originaltitel auch getan hat, denn zweifellos handelt es sich um Musik für ein zweimanualiges Cembalo, nicht für ein einmanualiges Klavier. Bach kannte und schätzte zwar die frühen Klaviere seiner Zeit, die Silbermannschen Hammerflügel. Doch in diesem Falle dachte er ausschließlich und ausdrücklich an das Cembalo. Viele der komplizierten Stimmkreuzungen in den Variationen lassen sich nur auf zwei Manualen problemlos ausführen, während sie den modernen Pianisten zu Kompromissen zwingen. Die Transparenz, die das Cembalo natürlicherweise an den Tag legt, sein voller, farbenreicher Klang selbst im „dünnen“ zweistimmigen Satz und die charakteristischen Klangunterschiede zwischen den Lagen machen es zum idealen Medium für einen Zyklus, in dem Bach alle Möglichkeiten der Satztechnik ausnutzte – vom galanten Cantabile bis zum strengen Kanon.
Für jede Variation legte er ausdrücklich fest, ob sie „à 1 Clav.“ oder „à 2 Clav.“ zu spielen sei, also auf einem oder auf zwei Manualen. Nur bei drei Variationen hat er dem Spieler die Wahl zwischen ein- oder zweimanualiger Ausführung überlassen. Stets war die Möglichkeit, das obere Manual im Vierfuß, also zarter und leiser zu registrieren, als „Instrumentierung“ mit gedacht.
Seit Glenn Gould und weitaus jüngeren Pianisten wie Martin Stadtfeld sind wir freilich daran gewöhnt, die Goldbergvariationen auf dem Steinway zu hören. Kaum legen wir uns Rechenschaft darüber ab, wie der Pianist auf diesem Instrument „tricksen“ muss, um Bachs Stimmführungen einigermaßen originalgetreu beizubehalten, und wie er durch Klangfarbenregie eine quasi orchestrale Instrumentierung der Partitur vornehmen muss, die auf dem Cembalo ganz überflüssig wäre – von dynamischen Nuancierungen ganz zu schweigen.
In der Originalfassung für Cembalo ergibt sich Alles wie von selbst. Gerade deshalb mag es reizvoll erscheinen, die Goldbergvariationen wieder einmal in ihrer Originalfassung zu hören – so, wie sie sich ihr Schöpfer gedacht hatte. Bach liebte das Cembalo und tat alles, um seinen Instrumenten den schönsten Klang zu verleihen: „Niemand konnte ihm seine Instrumente zu Dancke stimmen und bekielen. Er that alles selbst“, berichtete sein zweitältester Sohn Carl Philipp Emanuel. Bis zum Aufsetzen der Federkiele hat Bach sich den idealen Klang des Cembalos selbst geschaffen. Sein eigenes war natürlich ein „großes Clavicimbel zu 2 Manualen“!
Auch Bachs Zeitgenossen kannten, schätzten und spielten das Werk nur so: auf dem Cembalo. In einer Nürnberger Ausgabe brachte Bach die Variationen zwischen 1742 und 1745 auf der Leipziger Messe heraus. Es dürften nicht wenige gewesen sein, die es kauften, denn bald waren keine Druckexemplare mehr zu haben und das Werk wurde in Handschriften weiterverbreitet. Die Zeitgenossen liebten die Bachschen „Claviersachen“, so mühsam sie auch von der Hand gingen. Beim Durchspielen empfanden sie durchaus jene „Gemüths-Ergötzung“, auf die es der Schöpfer der Goldbergvariationen abgesehen hatte.
Aria mit Veränderungen
Die Goldberg-Variationen sind die Krönung einer besonderen Form der Cembalomusik, der Aria variata. Dabei wird eine Aria, ein zweiteiliger Tanzsatz, in der Weise verarbeitet, dass jede Variation deren harmonisches Gerüst beibehält, Taktart, Tempo, Melodie und aber nach Belieben verändert. Bach benutzte als Thema eine eigene Aria in G-Dur bzw. deren acht erste Bassnoten. (Eine Abschrift aus dem Umkreis der preußischen Prinzessin Amalie nannte das Werk ausdrücklich Aria und 30 Veränderung[en] über G-Fis-E-D-H-C-D-G, also die erst acht Bassnoten!) Jede Variation lässt die zweiteilige Form, die besagten Bassnoten und die harmonischen Eckpfeiler der Aria deutlich erkennen. Dennoch sind alle 30 völlig verschieden, wie die kurzen Beschreibungen im Anschluss andeuten mögen.
Über dem „harmoniebestimmenden Bassgrund“ entfaltete Bach, wie es Rudolf Steglich ausdrückte, „ein Wunderwerk von 30 Variationen, heitere und besinnliche, kantable und fugierte, tänzerische und virtuose, und zwar in planvoller Folge. Das Ganze ist durch den verschwebenden Schluss der 15. Variation und den energischen Neubeginn der 16. – einer Ouvertüre inmitten des Werkes – in zwei Teile gegliedert und überdies in Gruppen zu je drei Variationen: jede dritte ist ein Kanon, wobei die Folge der Kanons stufenweise aufsteigt vom Kanon im Einklang bis zum Kanon in der None, bis die letzte Gruppe beschlossen wird durch ein Quodlibet, in das Volksliedzeilen kunstvoll verwoben sind.“ (Steglich)
Im Detail ist die Gliederung der 30 Veränderungen noch systematischer. Denn jede der zehn Dreiergruppen hat in sich einen klaren Aufbau: Den Anfang macht ein Genrestück, entweder ein Tanzsatz der Bachzeit oder eine andere feste Form wie Fuge, Ouvertüre oder Chaconne. In der Mitte folgt eine Art Etüde, also ein Stück, das eine besondere Spieltechnik erfordert bzw. – im Sinne der Clavier-Übung – schult. Diese Stücke schreiten im Laufe der Variationen von gut zu bewältigenden Fingerübungen fort bis zu den halsbrecherischen Anforderungen der berühmt-berüchtigten letzten Variationen. Am Ende der ersten neun Dreiergruppen steht wie gesagt ein Kanon. Dank dieser Kanons erscheinen die Goldbergvariationen wie ein Gegenstück zur Kunst der Fuge, die Bach in ihrer ersten Fassung ebenfalls bereits um 1744 vollendet hatte. Der Kunst der Fuge stellte er offenbar ganz bewusst die Variationen als eine „Kunst des Kanons“ gegenüber.
Die Kunst des Kanons
Geradezu obsessiv hat sich Bach in seinem letzten Lebensjahrzehnt mit der Kunst des Kanons beschäftigt – eine Tendenz, die sich in den kanonischen Stimmführungen seiner späten Kantaten aus den 1730er Jahren schon ankündigte. Es folgten: die neun Kanons der Goldbergvariationen, die vier Kanons der Kunst der Fuge, die zehn Kanons des Musicalischen Opfers, die Kanonischen Veränderungen über Vom Himmel hoch da komm ich her und ein Kanonwerk, das man erst in seinem Handexemplar der Goldbergvariationen wieder entdeckte: 14 Kanons über die ersten acht Fundamentalnoten der Aria. Noch nach Vollendung der neun Cembalokanons seiner Variationen ließen Bach die besagten acht Bassnoten nicht los, so dass er sie in dieser Folge von 14 Kanons nach allen Regeln der Kunst behandelte.
Die neun Kanons der Goldbergvariationen sind freilich länger und kunstvoller als die späteren, da sie ja die gesamten 32 Takte der Aria verarbeiten und nicht nur ihre ersten acht Bassnoten. Zudem ist jeder der Kanons in den Variationen ein idiomatisches Cembalostück, keineswegs ein abstrakt gedachter Kanon. In den Überschriften wies Bach allerdings darauf hin, um welche Art Kanon es sich handelte, also in welchem Intervallabstand die Stimmen einander folgen. Dieser Abstand wächst von Kanon zu Kanon stufenweise an: vom Kanon im Einklang (all’Unisono) über Kanons im Abstand der Sekund, Terz, Quart, Quint, Sext, Sept und Oktav bis hin zum Kanon in der None. Dort, wo man den Kanon in der Dezime erwarten würde, steht das ewähnte Quodlibet.
Wer jemals einen Kanon selbst komponiert oder gesungen hat, weiß, wie schwierig das Genre ist. Dabei beschränken sich die Kanons, wie man sie für gewöhnlich in der Chorprobe, im Gottesdienst oder in geselliger Runde singt, im allgemeinen auf die simplen Intervalle des Einklangs und der Oktav. Ungleich schwieriger sind Kanons in anderen Intervallabständen, schon solche in den konsonanten Intervallen Terz, Quint und Sext, umso mehr aber solche in den dissonanten Intervallen Sekund, Quart, Sept und None. Bachs Verfahren ist also an sich schon verwegen und wird es umso mehr, als alle Kanons bis auf den letzten dreistimmig angelegt sind: Oberstimme und Mittelstimme folgen einander im Kanon, während der Bass dazu eine freie und oft stark bewegte Grundstimme spielt, welche die Harmonien der Oberstimmen ausdeutet. Häufig tauschen die beiden Kanonstimmen im Verlauf eines Satzes die Rollen, so dass mal die Oberstimme, mal die Unterstimme vorangeht. Damit verändert sich auch die Lage des Kanonintervalls: Der Quartkanon etwa beginnt als Kanon in der Unterquart (die Oberstimme geht voran), um im zweiten Teil zu einem Kanon in der Oberquart zu werden (die Unterstimme geht voran). Zusätzlich handelt es sich um einen Spiegelkanon, so dass alle Intervalle der Kanonmelodie in der ersten Stimme in der zweiten gespiegelt werden. Dies alles spielt sich im unverrückbaren harmonischen und formalen Rahmen der Aria ab, denn jeder Kanon ist ja zugleich eine Variation des Themas.
Dadurch, dass Bach die Variationen in zehn Dreiergruppen gliederte und die Kanons am Ende jeder Gruppe zyklisch vom Einklang bis zur None aufsteigen ließ, verlieh er dem Werk eine klare zyklische Anlage, die auf Steigerung beruht. Angesichts der letzten Variationen ab der 25. ist es kaum eine Übertreibung zu sagen, dass es sich um eine wahrhaft monumentale Steigerung handelt. Freilich muten manche Variationen, gerade unter den mittleren jeder Gruppe (den Quasi-Etüden), bizarr an, so dass man schon hier nicht alles ernst nehmen sollte, was Bach an technischen Finessen aufgehäuft hat. Zu deutlich ist Bachs Absicht, kapriziöse Einfälle zu einer Collage zusammenzufügen. Dazu passt der humorvolle Schluss des Ganzen: Das Ausweichen vor dem Dezimenkanon auf ein Quodlibet ist nichts ein handfester Bachscher Scherz. Mit einem Lächeln auf den Lippen beweist uns der Thomaskantor, dass man drei der populärsten mitteldeutschen Volkslieder kontrapunktisch miteinander und mit dem Bass der Aria kombinieren kann!
Gemütsergötzung
Für alle jene Zuhörerinnen und Zuhörer, die sich die Freude an den Goldberg-Variationen nicht durch die Analyse solcher Komplikationen des Kontrapunkts verderben wollen, sei gesagt: Auch diese Dimension hat Bach in seiner monumentalen Clavier-Übung mitgedacht. Nicht umsonst widmete er sie der „Gemüths-Ergötzung“ der Musikliebhaber, weniger der Belehrung der Kenner. Graf Keyserlingks Wunsch nach Stücken, „die so sanften und etwas muntern Charakters wären“, hat sich Bach zu Herzen genommen. Nur drei der 30 Variationen stehen in g-Moll, die meisten sind im Affekt heiter-gelöst, manche besinnlich, manche brillant, manche burschikos. Die Schönheiten dieser Musik könnte man nicht besser beschreiben, als es ein anonymer Autor 1788 für die Allgemeine deutsche Bibliothek formulierte, als er Bachs freie, also nicht fugierte „Clavierwerke“ beschrieb:
„Was haben aber Bachs übrige Claviersachen [außer den Fugen] nicht für Vorzüge! Wie viel Leben, Neuheit und gefällige Melodie noch itzt, da alles im Gesange so verfeinert ist! Wie viel Erfindung, welche Mannigfaltigkeit in allerley Geschmack, der kunstreichen und galanten, der gebundenen und freyen Schreibart, wo Harmonie oder Melodie herrscht; dort äußerste Schwierigkeit für Meisterhände, und hier Leichtigkeit, selbst für etwas geübte Liebhaber! Wie viel brave Clavierspieler haben seine Stücke nicht hervorgebracht! War er nicht der Schöpfer einer ganz andern Behandlungsart der Clavierinstrumente? Gab er ihnen nicht vorzüglich Melodie, Ausdruck und Gesang im Vortrage? Er, der tiefste Kenner aller kontrapunktischen Künste, (und Künsteleyen sogar) wusste der Schönheit die Kunst unterthan zu machen.“
All dies (ja sogar die „Künsteley“ manches allzu ausgeklügelten Kanons) findet sich in der Aria mit verschiedenen Veränderungen.
Die einzelnen Variationen
VARIATIO 1 ist eine Courante, also ein schneller Tanzsatz, wie er in Bachs Cembalosuiten an zweiter oder dritter Stelle seinen Platz hatte. Wie die meisten Bachschen Couranten ist auch dieser Satz zweistimmig, mit Sechzehntelläufen über einem rhythmisch pointierten Kontrapunkt.
VARIATIO 2 wirkt wie die Übertragung eines italienischen Triosonatensatzes alla Corelli auf das Cembalo. Hier sollten sich offenbar die „etwas geübten Liebhaber“ mit dem dreistimmig-polyphonen Spiel beschäftigen, besonders in der Unabhängigkeit von Ober- und Mittelstimme üben.
VARIATIO 3, CANONE ALL’UNISONO: Im beschwingten Tanzrhythmus einer italienischen Giga folgen die beiden Oberstimmen einander im Taktabstand, was das Hören des Kanons erleichtert.
VARIATIO 4: Über dem Bass der Aria setzen drei Oberstimmen rasch hintereinander imitierend ein, woraus ein vollgriffiger, fast orchestraler Satz entsteht. Der Effekt erinnert an eine französische Chaconne für Orchester.
VARIATIO 5: Das Übergreifen der rechten über die linke Hand führt zu reizvollen Dialogen zwischen Diskant und Bass, während die dritte Stimme in virtuosen Sechzehnteln durchläuft. Hier überließ es Bach dem Spieler, zwischen einem und zwei Manualen zu wählen.
VARIATIO 6, CANONE ALLA SECONDA: Der satztechnisch schwierige Kanon in der Sekunde wurde von Bach in raffinierter Weise gelöst: als eine Kette von Sekundvorhalten, die über dem bewegten Bass ständig aufgelöst und wieder neu eingeführt werden.
VARIATIO 7, AL TEMPO DI GIGA: Während Variation 3 den Rhythmus einer italienischen Giga verwendet, hören wir hier den typischen scharf punktierten Rhythmus ihres französischen Gegenstücks: der Gigue. In diesem Fall handelt es sich sogar um eine besonders scharf punktierte Gigue, eine Canarie. Dieser Tanz, der angeblich von den kanarischen Inseln stammte, war eine Spezialität des großen Jean-Baptiste Lully und des Hamburger Musikdirektors Georg Philipp Telemann, dem sein Freund Bach hier ein kleines Denkmal setzte.
VARIATIO 8 besteht aus einem ständigen Sich-Annähern, Kreuzen und Sich-Wieder-Abstoßen der Stimmen in Achteln und Sechzehnteln. Der Clavierist soll sich hier offenbar in der Kunst der Gegenbewegung üben: Während die Achtel in der linken Hand in die Tiefe hinabsteigen, streben die Sechzehntel in der rechten Hand in die Höhe und vice versa. Dies ist die erste Variation, die man nur auf zwei Manualen angemessen ausführen kann.
VARIATIO 9, CANONE ALLA TERZA: Die zweite Stimme imitiert die erste in der Unterterz und im Abstand eines Taktes. Die Überbindungen und durchlaufenden Sechzehntel der Unterstimme durchbrechen raffiniert die Motorik der ständigen Achtelbewegung in den Oberstimmen.
VARIATIO 10, FUGHETTA: Die Fughetta wird ihrem Namen „kleine Fuge“ durch das knappe Thema mit seinem prononcierten Triller gerecht. Die Form bleibt streng zweiteilig, wie in den anderen Variationen, dennoch handelt es sich um eine reguläre vierstimmige Fuge, allerdings mit nur zwei Durchführungen des Themas.
VARIATIO 11: Nach dem vollen Klang der Fughetta bleibt die folgende Variation zweistimmig. Voreinander fliehende Sechzehnteltriolen und Triller mit Mollwendungen der Harmonie bilden ihr Material.
VARIATIO 12, CANONE ALLA QUARTA: Im Quartkanon ahmte Bach den altmodischen Duktus einer Passacaglia nach, denn die ersten vier Bassnoten der Aria ergeben von selbst den absteigenden Passacaglia-Bass in Dur. Dazu imitieren die Oberstimmen einander im Abstand einer Quart, und zwar in Gegenbewegung! Die aufstrebende Melodie der Oberstimme wird von der Mittelstimme absteigend aufgegriffen. Im zweiten Teil ist es umgekehrt. Die ständige Umkehrung der Motive und die melodische Chromatik im zweiten Teil sind Merkmale nicht nur dieser, sondern zahlreicher weiterer Variationen des Zyklus.
VARIATIO 13: So altertümlich Nr. 12, so modern wirkt Nr. 13: ein kantables Andante voll galanter Verzierungen in der Oberstimme und affektvoller Mollwendungen in der Begleitung, fast wie in einer kantablen Cembalosonate von Domenico Scarlatti. Dabei könnte man die Oberstimme unschwer auf einer Traversflöte oder noch besser auf einer Violine spielen, wozu auch die Imitation einer typisch geigerischen Bariolage auf der E-Saite im zweiten Teil der Variation passt.
VARIATIO 14: Triller, Pralltriller, große Sprünge und flirrende Zweiunddreißigstel ergeben das clavieristische Material dieser Variation, die nichts anderes als eine Trilleretüde ist.
VARIATIO 15, CANONE ALLA QUINTA (ANDANTE): Den Schluss der ersten Hälfte des Zyklus hat Bach ebenso akzentuiert wie den Beginn der zweiten. Es ist eine langsame Variation in g-Moll, die erste der drei Mollvariationen. Wie die beiden späteren (Nr. 21 und 25) ist auch dieses Stück von Halbtonschritten förmlich überwuchert. Die Seufzerfiguren, mit denen die erste Kanonstimme einsetzt, verstärken noch den Affekt der Trauer. Die zweite Stimme, die einen Takt später in der Oberquint einsetzt, kehrt alle Intervalle um. Wieder haben wir es mit dem strengen Satzmodell eines Canone al roverscio, eines Spiegelkanons, zu tun, im Gegensatz zum Quartkanon aber in Moll. Fast erschreckend ist der Ton tiefer Resignation, den Bach diesem rigiden satztechnischen Modell mithilfe der Chromatik einhauchte.
VARIATIO 16, OUVERTURE: Glanzvoll, im Aplomb einer französischen Ouvertüre für Orchester, hebt der zweite Teil des Zyklus an. Volle Akkorde, rauschende Läufe und pompöse punktierte Rhythmen suggerieren die Aura einer Opernouvertüre alla Rameau oder Händel. Sicher kannte Bach die zahlreichen Cembalo-Arrangements von Händels Opernouvertüren. Variation 16 lehnt sich an dieses Vorbild an. Der langsamen Einleitung folgt ein schneller zweiter Teil, eine Minifuge in Engführung. Die sonst übliche Reprise des langsamen Teils bleibt fort.
VARIATIO 17: Eine Etüde in Terzen und Sexten, die in beiden Händen über mehrere Takte hinweg parallel laufen. Mit diesen Passagen war Bach seiner Zeit weit voraus. Noch 1782 bewunderte Mozart am Spiel seines Konkurrenten Muzio Clementi gerade die Sexten-Passagen!
VARIATIO 18, CANONE ALLA SEXTA: Die beiden Oberstimmen setzen in Engführung ein, so dass jede Sext auf dem nächsten Schlag zur Septime wird. Der regelmäßige Wechsel von Dissonanz und Auflösung über einem gehenden Bass und der feierliche Alla breve-Takt erinnern an den Stil von Orgelmusik.
VARIATIO 19: Diese Variation kann man wahlweise als galantes Menuett in zarten Pastellfarben oder als stürmisches Presto in kräftigem Forte spielen. Die meisten Interpreten bevorzugen die erste Variante.
VARIATIO 20: Ein Klangspiel aus gegenläufigen gebrochenen Akkorden und Triolenfiguren, in das sich im zweiten Teil Chromatik einmischt. Selbstverständlich ist auch dieses Kaleidoskop von Stimmkreuzungen auf zwei Manualen auszuführen.
VARIATIO 21, CANONE ALLA SETTIMA: Der Septimenkanon bewegt sich über dem chromatisch absteigenden Bass, dem sogenannten „Lamento-Bass“ der Barockzeit, den man in der Figurenlehre der musikalischen Rhetorik auch den „passus durisuculus“, den etwas harten Gang, nannte. Die beiden Oberstimmen greifen die Chromatik der Unterstimme auf und verdichten dadurch noch ihren komplizierten Intervallzusammenhang. Der Satz mutet altertümlich an, beinahe wie eine Pavane aus dem frühen 17. Jahrhundert. Die Kanonstimmen verbreiten eine Aura von Abstraktion, wie sie auch die Kanons im Musicalischen Opfer und der Kunst der Fuge umgibt.
VARIATIO 22: Ein dichter vierstimmiger Kontrapunkt im „gebundenen Stil“ der Palestrinazeit und im altertümlichen Alla breve-Takt. Aus der stufenweisen Bewegung und den gebundenen Noten stechen die abspringenden Quinten hervor, die dem Thema eine kesse Note verleihen.
VARIATIO 23: Ein Scherzo, bestehend aus Sechzehntelläufen, die einander in Engführung hinterher jagen, und einem Zwei-Achtel-Motiv, das „jazzig“ nachschlagend etliche „tirate“ (Läufe aus Zweiunddreißigsteln) in Gang setzt. Die Motive sind so bizarr, dass das Ganze kaum ernst gemeint sein kann.
VARIATIO 24, CANONE ALL’OTTAVA: Dem Oktavkanon hat Bach den lieblichen Duktus einer Pastorale verliehen. Von „Jesus bleibet meine Freude“ bis zu „Mache dich, mein Herze, rein“ war dies einer von Bachs liebsten Ausdrucksformen, ein Sinnbild des Erlösers als guter Hirte, dessen religiöse Komponente vielleicht auch in diese Variation mit hineinspielt.
VARIATIO 25: Die berühmte 25. Variation ist das vielleicht traurigste Klavierstück, das Bach jemals geschrieben hat: ein immer tiefer ins harmonische Dunkel hinab steigendes Adagio in g-Moll, das schon in den ersten drei Takten alle zwölf Halbtöne der Tonleiter berührt. Nur rein äußerlich hat Bach diesen Satz in die Form einer reich verzierten Sarabande gekleidet. In Wahrheit entspricht er weit eher den empfindsamen Adagiosätzen seiner beiden ältesten Söhne Friedemann und Carl Philipp.
VARIATIO 26: Mit Nr. 26 beginnen die virtuosen Schlussvariationen, die vom Nonenkanon unterbrochen werden. Nr. 26 lebt von rasanten Sechzehnteln im 12/16-Takt, der schnellsten Taktart der Bachzeit. Dem durchlaufenden Band der schnellen Noten, das zwischen den beiden Händen hin- und herwandert, setzte Bach als Kontrapunkt eine Sarabande zu zwei Stimmen mit pathetischen Vorhaltsdissonanzen entgegen.
VARIATIO 27, CANONE ALLA NONA: Nach acht dreistimmigen Kanons hat Bach sich im neunten einen Scherz erlaubt: er ist nur zweistimmig, wodurch das heikle Unterfangen, eine Stimme in der Obernone zu imitieren, eine fast spielerische Heiterkeit gewinnt. Wie so oft tauschen die beiden Kanonstimmen im zweiten Teil die Rollen: Nun geht die Oberstimme voran und die Unterstimme folgt im Abstand der Unternone!
VARIATIO 28: Markante Oktavsprünge der linken Hand stützen einen nicht enden wollenden, nervösen Triller in der Mittelstimme, von dem sich wie Schaumkronen die Staccatotöne einer bizarren Melodie im Diskant abheben. Später wird sogar zweistimmig getrillert! Die Fingerakrobatik „geübter Meisterhände“ wird hier zum humoristischen Capriccio.
VARIATIO 29: Die vorletzte Variation steigert den bizarren Klangrausch von Nr. 28 ins Pathetische. Vollgriffige Akkorde in beiden Händen wechseln sich mit flirrenden Triolen ab. Beide Hände greifen nahtlos ineinander und lassen einen rauschenden Klangteppich entstehen.
VARIATIO 30: Das Augenzwinkern, mit dem Bach an den Schluss der großen Variationen ein kleines Quodlibet stellte, ist dem Satz noch heute anzuhören. Mit dem Ausdruck „Quodlibet“ bezeichnete man seinerzeit eine gesellige Form des Durcheinandersingens von Volksliedern. Schon der junge Bach lieferte dafür ein wunderbares, durchaus derbes Beispiel mit seinem „Hochzeitsquodlibet“. Hier, im humoristischen Finalsatz der Goldbergvariationen, gehen drei Zeilen aus zwei verschiedenen Liedern durcheinander, wie in einem vierstimmigen Vokalsatz. Über dem absteigenden Bass der Aria geht der Tenor voran mit dem Anfang des Liedes „Ich bin so lang nicht bei dir gwest“, den sofort der Sopran aufgreift. Gleichzeitig spielt der Alt den Beginn des Liedes „Kraut und Rüben haben mich vertrieben“ in C-Dur. Dieser tonartlich falsche Einsatz wird gleich im Sopran richtiggestellt, wo der Anfang desselben Liedes in G-Dur zitiert wird. Später hört man in den Mittelstimmen auch „Hätt mein‘ Mutter Fleisch gekocht, so wär‘ ich länger blieben“ aus dem zweiten der Lieder. Alle drei Liedzeilen geistern durch die Stimmen und paaren sich mit dem Bass der Aria. Ob sich dahinter eine Anspielung an die Adresse des Grafen Keyserlingk oder einfach einer jener zotigen Scherz verbirgt, wie man sie in der Bachfamilie liebte, bleibt für immer Bachs Geheimnis. Es entspricht aber völlig seinem Niveau von Kompositionskunst, dass man die beiden ersten Volkslieder schon in so mancher Variationen zwischen Nr. 1 und Nr. 29 gelegentlich hat anklingen hören.
Ganz am Ende kehrt noch einmal die Aria wieder, so, als wollte Bach beweisen, aus welch einfacher Quelle alle vorangegangene Kunst gespeist wurde.
Karl Böhmer