Serenade E-Dur für Streichorchester, op. 22
Werkverzeichnisnummer: 592
1. Moderato
2. Tempo di Valse
3. Scherzo. Vivace
4. Larghetto
5. Finale. Allegro vivace
2005
1875 war ein bedeutungsvolles Jahr für die europäische Musikgeschichte: In Paris wurde Georges Bizets „Carmen“ uraufgeführt, in Prag Smetanas „Moldau“, in Wien arbeitete Johannes Brahms an der Vollendung seiner Ersten Sinfonie, in Bayreuth fieberte Wagner der Premiere der 1874 vollendeten „Götterdämmerung“ entgegen. Zwischen diesen Landmarken der Musikheroen nimmt sich der Aufstieg eines bescheidenen böhmischen Musikanten aus einfachen ländlichen Verhältnissen eher unscheinbar aus. Ein Wiener Ministerium bewilligte Antonin Dvorak ein „Künstlerstipendium“ in Höhe von 400 Gulden. Noch unbehelligt vom späteren Weltruhm, schrieb der 34jährige damals einige seiner schönsten und inspiriertesten Werke. Alle von ihnen sind mit einer „Nr. 1“ versehen: die ersten „Klänge aus Mähren“, op. 20, das erste Klaviertrio, op. 21, und das erste Klavierquartett, op. 23. Aus der Mitte dieser Kammermusiken ragt das Opus 22 heraus: die erste Serenade in E-Dur, für Streichorchester geschrieben, Summe des Wohllauts und der herrlichsten böhmischen Melodien. Alles an diesem klangseligen Werk kündet von der guten Laune des aufstrebenden Komponisten. Themen hat er in geradezu verschwenderischer Fülle über die fünf Sätze ausgestreut. In satt-samtigem Klang entfalten die Streicher eine Wärme und Innigkeit, wie sie selbst die ähnlich erfolgreichen Streicherwerke von Tschaikowsky und Grieg nicht überboten haben.
Wie seinen Kollegen in Russland und Norwegen ging es Dvorak beim Komponieren seiner ersten Serenade um einen Atavismus, eine „Rückentartung“ in die Welt der klassischen Serenaden und Divertimenti eines Haydn und Mozart. Die Formen der fünf Sätze sind klassisch übersichtlich gehalten, die Themen überschreiten nie ein gewisses klassisches Maß an Schönheit und Gediegenheit, speziell die thematische Verarbeitung wird auf ein leicht zu überschauendes Mindestmaß reduziert. Dvorak hat hier aufs Schönste dem italienischen Kern des Begriffs „Serenata“ gehuldigt, der sich nicht etwa von „sera“, dem italienischen Wort für Abend, herleitet, sondern von „sereno“, dem aus italienischen Wettervorhersagen geläufigen Begriff für einen heiteren, wolkenlosen Himmel, der nicht unbedingt nur am Abend zu genießen ist. Von einem so leuchtend blauen, überdies böhmischen Himmel wird die Dvorak-Serenade gleichsam zur Gänze überstrahlt – ein wolkenloses Werk.
Der Kopfsatz ist eine Art Präludium im gemächlichen Tempo. Seine um die Terz kreisende Melodie wird im Kanon vorgestellt – eine Satzweise, die Dvorak bei vielen Themen dieses Werkes angewendet hat. Stets antwortet eine Streichergruppe auf die andere: die Bratschen auf die ersten Geigen, die Celli auf die Bratschen, die zweiten auf die ersten Geigen. Es ist ein Hin- und Wiedersagen der einfachen, schönen Wendungen, das den Reiz des jeweiligen Motivs gewissermaßen dupliziert. Im Dialog steigern die Streichergruppen ihren Gesang zu immer größerer Intensität, ein Bogen, der aufblüht und sich am Ende wieder schließt. Darauf folgt in allen Sätzen ein kontrastierender Mittelteil. Hier ist es eine rhythmisch straffere Weise in punktierten Rhythmen, die einen Tanzrhythmus zart andeutet. Sie wird mit einem hinreißend schönen Kontrapunkt der Celli ausgestattet, bevor eine kleine Moll-Aufregung zur Reprise des Hauptteils zurückleitet.
An zweiter und dritter Stelle folgen Tanzsätze: zunächst ein Walzer, der bei Dvorak nicht so weltmännisch elegant ausfällt wie bei Tschaikowsky, sondern eher melancholisch; dann ein Scherzo. Beide Sätze haben sogenannte „Trios“ als Mittelteile, doch hat Dvorak in beiden von einem für ihn typischen Kunstgriff Gebrauch gemacht: einem verkappten Trio bereits im Hauptteil. Schon mitten im Walzer verkehrt sich dessen kreisende Mollweise in ein munteres Durmotiv, um dann einer kraftvolleren Episode Platz zu machen – eine Art vorgezogenes Trio. Unversehens kehrt aber zunächst der Walzer zurück, bevor sich der Vorhang zum eigentlichen Trio öffnet. Dieses wiederum ist eine von Süßigkeit geradezu überfließende Ländlermelodie über lauter absteigenden Terzen. Ihre wehmütig zwischen Dur und Moll changierenden Harmonien, das dauernde An- und Abschwellen des Klangs, die Pizzicati und kleinen Echos machen sie zu einem „Claire de Lune“ par excellence. Die Reprise des Walzers rundet den Satz ab.
Deutlich vitaler, fast zupackend gibt sich das Scherzo. Es ist eine sich gegenseitig jagende und neckende Tanzweise, eine Art „Kinderszene“, die Dvorak vielleicht in der Freude über die Geburt seiner ersten Tochter Josefa geschrieben hat. Im Verlauf des Satzes treten noch weitere, heiter-besinnliche Tanzmelodien auf. Die schönste von ihnen ist das Thema des Trios, das unablässig um den anrührenden Septvorhalt kreist. Vor der Reprise wird das Scherzothema auf übermütige Weise „herangelockt“, bis es sich in einem großspurigen Tremolo Bahn bricht.
Höhepunkt der Serenade ist zweifellos der langsame Satz, einer der innigsten der gesamten Romantik. Er beginnt mit einer Akkordfolge von so entwaffnender Schönheit, wie sie Dvorak nur noch in der Einleitung zur 9. Sinfonie erfunden hat. Aus der wehmütigen Anfangswendung, eine Art feierlicher Chorsatz, entspinnt sich ein melancholischer Gesang, der über Mollwendungen einem strahlenden Durhöhepunkt zustrebt. Danach verleihen Bratschen und erste Geigen dem Hauptthema im Dialog den großen Atem eines Opernduetts, bevor eine Marcato-Episode den Mittelteil eröffnet. Im Zwielicht dieses romantisch zart gewobenen Naturstücks darf man durchaus an die Welt der unerlösten Wassernymphe Rusalka denken.
Im Finale hat Dvorak die Themen der vorhergehenden Sätze auf genial einfache Weise zusammengefasst: Ein kraftvoll zupackender Kontrapunkt eröffnet den Satz und kehrt zwischen den wechselnden Episoden rondoartig wieder. Die erste Episode ist ein leichtfüßiger Volkstanz, die zweite nichts anderes als das Thema des langsamen Satzes. Immer wieder tritt der rustikale Kontrapunkt dazwischen, bis am Ende plötzlich die Gestalten verschwinden und sich der Kreis schließt: der Anfang des Kopfsatzes kehrt zurück, so, als seien alle Episoden dazwischen nur Szenen eines Traums gewesen.