Quartett F-Dur für zwei Violinen, Viola und Violoncello, op. 96 („Amerikanisches Quartett“)
Werkverzeichnisnummer: 586
1. Allegro ma non troppo
2. Lento
3. Molto vivace
4. Finale. Vivace ma non troppo
Die Strecke sei weiter als von Prag nach London, ließ Antonin Dvorak zuhause verlauten, als er sich im Juni 1893 in den Zug von New York nach Iowa setzte. Er gönnte sich Sommerferien – nach dem Abschluss der ersten Arbeiten an der Sinfonie Aus der Neuen Welt – und hatte sich dafür die tschechische Enklave Spillville in Iowa herausgesucht. Für die 1300 Meilen von der Metropole in das Örtchen im Mittelwesten benötigte der Zug 36 Stunden. Dvorak genoss den Rausch der Geschwindigkeit im ICE von damals – und stieß an die Grenzen amerikanischer Toleranz, die beim Bier erreicht waren.
Als er sich mitten in Pennsylvania zum würzigen tschechischen Lunchpaket seiner Ehefrau ein Bier genehmigen wollte, erfuhr er, dass der Ausschank desselben in eben diesem Bundesstaat verboten war. Das gleiche galt für Iowa, und doch wurde in Spillville unter der Hand Bier ausgeschenkt. (Wen wundert’s, war der Ort doch von einem Bayern namens Spielmann gegründet worden!) Dvorak zweifelte am Sinn der amerikanischen Gesetze: „Diese Amerikaner sind seltsame Menschen, man würde es gar nicht glauben – sie wollen Bier trinken, obwohl sie selbst das Gesetz gegen Bier erlassen haben.“
Auch andere Widersprüche im „American way of life“ blieben dem perfekt englisch sprechenden Gast nicht verborgen, der dennoch die Größe Amerikas rückhaltlos anerkannte: „Es gibt hier Dinge, die man bewundern muss, andere würde ich lieber nicht sehen, aber was hilft’s? Wenn Amerika in allem so fortfahren wird, überholt es alles übrige.“
Die ihm von den Amerikanern anvertraute Aufgabe nahm Dvorak überaus ernst: „Die Amerikaner erwarten große Dinge von mir und als Hauptsache, dass ich ihnen den Weg in das gelobte Land einer neuen eigenständigen Kunst weise, kurz, ihnen helfe, eine Nationalmusik zu schaffen! Wenn das angeblich kleine tschechische Volk solche Musik habe, warum sollten sie es nicht haben, wo doch Land und Volk so riesig sind!“
Aber woher ursprüngliche Musikalität nehmen, wenn das Land aus Einwanderern bestand? Dvorak ließ sich von Indianertänzen in den Shows des Buffalo Bill und von Spirituals anregen, die ihm ein farbiger Kompositionsschüler vorsang. Erst in der Einöde von Iowa und im vertrauten heimatlichen Milieu der dort lebenden Tschechen freilich reifte die Frucht dieser amerikanischen Eindrücke zu zwei Meisterwerken der Kammermusik: dem „Amerikanischen Quartett“ F-Dur, op. 96, und dem nicht minder amerikanischen Streichquintett Es-Dur, op. 97.
Inspiriert von täglichen Morgenspaziergängen am Fluss, wo er den einheimischen Vogelarten lauschte, und vom Kammermusizieren mit seinen tschechischen Freunden schrieb Dvorak die beiden Werke in je einem knappen Monat nieder. Sein Sohn Otokar war von der überschäumenden Inspiration des Vaters während jener amerikanischen Ferien nicht immer begeistert:
„Ich erinnere mich, wie gern Vater zu den Ufern des Turkey River ging, wie er dort in der völligen Stille den zarten Tönen der Natur lauschte… Wir wollten Vater seinen Gedanken überlassen und selbst angeln gehen. Vater kamen jedoch die Einfälle schneller, als wir mit unseren Vorbereitungen fertig waren, und so geschah es, dass er schon nach kurzer Zeit zu uns zurückkam und befahl: Jungs, packt euer Angelzeug zusammen, wir gehen heim! Ich brachte meine Verwunderung darüber zum Ausdruck, dass der Spaziergang zu diesem, seinem Lieblingsort so plötzlich enden sollte. Er erwiderte knapp: ‚Ich habe bereits so viel auf meiner Manschette notiert, dass sie ganz voll ist.‘ Zu dieser Zeit schrieb Vater gerade sein Quartett F-Dur, op. 96 … Die Motive dazu sind ihm in meiner Nähe an den Ufern des Turkey River eingefallen, wo so mancher Fisch mir nur deshalb wegschwamm, weil seine Hemdmanschetten bereits voller Noten waren. Vater brachte vom Fluss den ganzen Aufbau eines Satzes mit, während ich mit leeren Händen heimkehrte.“
Ebenso unzweifelhaft wie die allgemeinen Natureindrücke sind im „Amerikanischen Quartett“ die Vogelrufe, besonders jener des roten Tanagra, einer Vogelart, die Dvorak am Turkey River zum ersten Mal zu sehen und zu hören bekam. Auch dazu gibt es eine herrliche Anekdote, die Dvoraks Adlatus Kovarik überlieferte. Gemeinsam mit Dvorak und zwei Verwandten spielte er das Quartett jeden Nachmittag in der dörflichen Idylle Spillvilles durch. Bei einer dieser Proben verhaspelte sich Dvorak an der ersten Geige in den hohen Lagen und rief: „Pfui, verflixter Vogel!“, woraufhin ihn die Anderen verdutzt anschauten. Er erklärte ihnen, dass er gleich am ersten Morgen nach der Ankunft in den Wäldern um Spillville einen kleinen roten Vogel mit schwarzen Flügeln und besonders schönem Gesang entdeckt habe. Ornithologen haben diesen als den roten Tanagra identifiziert, dessen Ruf Dvorak relativ tongetreu zitiert hat – bis in die gefährlich hohen Lagen der Geige hinein.
Umstrittener ist die Frage nach „indianischen“ Themen im Quartett. Dvorak selbst meinte dazu: „Ich habe einfach charakteristische Themen geschrieben, indem ich ihnen Eigenheiten der indianischen Musik eingeprägt habe, und indem ich diese Themen als Gegenstand verwendete, entwickelte ich sie mithilfe aller Errungenschaften des modernen Rhythmus, der Harmonisierung, des Kontrapunktes weiter.“
Andere „amerikanische“ Facetten hörte der Wiener Kritiker Eduard Hanslick aus Dvoraks Musik heraus: „Was wir ganz allgemein amerikanische Musik nennen, sind eigentlich importierte schottische und irische Volksweisen, nebst etlichen Negermelodien.“ In den beiden amerikanischen Kammermusikwerken Dvoraks sei „dieser Typus“ noch deutlicher ausgeprägt als in der Sinfonie Aus der Neuen Welt. Man werde „sofort Motive heraushören, die von Dvoraks früherer Arbeit weit abstehen, wirklich, wie der Titel besagt, aus einer andern Welt sind.“
„Aus einer anderen Welt“ sind im „Amerikanischen Quartett“ vor allem die ätherischen Klangfarben. Sie erwecken zusammen mit den meist fünftönigen Melodien den Eindruck von „unverbrauchten, erfrischenden Volksklängen“ (Hanslick), eines spontanen Musizierens, das aber auch wehmütig in die Ferne schweifen kann. In dieser Verbindung zwischen taufrischer Melodik und einer Art „Fern-Wehmut“ liegt der Grund für die anhaltende Popularität, die dem F-Dur-Quartett seit seiner Uraufführung am 1. Januar 1894 in Boston treu geblieben ist.
Angesichts der Tonart und der üppig sich ausbreitenden Klangflächen könnte man fast von Dvoraks Pastorale sprechen. Dazu passt die Dramaturgie der vier Sätze. Der erste Satz in Sonatenform erscheint wie eine einzige Ode an die Natur, der zweite als weitgespannte, melancholische Kantilene mit Reminiszenzen an Schuberts Streichquintett, der dritte als burschikose Volksszene, das Rondofinale als rhythmisch vitale „Apotheose des Tanzes“.