Vier Lieder aus Marie Galante (1934) | Kammermusikführer - Villa Musica Rheinland-Pfalz

Kurt Weill

Vier Lieder aus Marie Galante (1934)

Vier Lieder aus Marie Galante (1934), geschrieben für Follette (1934, Texte von Jacques Deval)

Besetzung:

Werkverzeichnisnummer:

Satzbezeichnung

1. Les filles de Bordeaux (mit Ensemble)
2. J’attends un navire (mit Klavier)
3. Le Roi d’Aquitaine (mit Akkordeon)
4. Le grand Lustucru (mit Klavier)

Erläuterung

Als die Franzosen im Frühjahr 1944 sehnsüchtig die Invasion der Alliierten an der Kanalküste erwarteten, kursierte in den Kreisen der Résistance auch das Lied eines jüdischen Komponisten aus Deutschland, der mittlerweile in den USA im Exil lebte: Kurt Weill. Seine Chanson J’attends un navire, „Ich erwarte ein Schiff“, wurde zum Symbol der bevorstehenden Landung in der Normandie.
Komponiert hatte es der Musiker aus Dessau zehn Jahre zuvor, 1934 in Paris. Mit Auftragsarbeiten für die großen Stars der Cabarets hielt er sich damals über Wasser, während die Pläne für eine Übersiedlung in die USA erst allmählich reiften. Eine Einladung von Marlene Dietrich hatte Weill vorerst noch abgelehnt, doch im September 1935 war es so weit: Mit Lotte Lenya bestieg er in Cherbourg den Dampfer Majestic, der die beiden nach New York bringen sollte. Der aus Deutschland verstoßene jüdische Musiker fand in Hollywood und am Broadway eine neue Heimat.

Weihnachten 1934 feierte Weill noch in Paris. Zwei Tage vor Heiligabend hatte im Théâtre de Paris ein Theaterstück mit seiner Musik Premiere: Marie Galante. In der Rolle der Marie, einer nach Panama verschleppten jungen Frau aus Bordeaux, glänzte die Chansonette Florelle, die zuvor bereits in der Dreigroschenoper aufgetreten war. In sieben Liedern besang Florelle nun das tragische Schicksal der Marie, die sich nach ihrer Heimat Bordeaux sehnt. Doch das Schiff, das sie jeden Tag sehnsüchtig erwartet, bringt sie am Ende nur im Sarg nachhause. Zwar war das Stück selbst nur mäßig erfolgreich, die Notenausgabe der Weill-Lieder aber verkaufte sich glänzend, da der Deutsche den französischen Tonfall in Musik und Sprache vollendet getroffen hatte. Dem Charme der typischen Weill-Melodien konnten sich auch die Franzosen nicht entziehen. Regina Pätzer singt, begleitet von Erika Leroux, vier Lieder aus Marie Galante, und zwar in der Reihenfolge der Handlung:

Les filles de Bordeaux ist das erste Lied nach der instrumentalen Einleitung, ein sarkastischer Lobpreis auf die schönen Mädchen der Hafenstadt Bordeaux, die der Verlockung nach der Ferne nicht widerstehen können und am Ende in der Gosse landen wie Marie. Hier der Text des Refrains:

Les filles de Bordeaux
Qui s’en vont sur la vague,
Feraient mieux de se foutre à l’eau,
Sans sortir de Béhague.
Les filles de Bordeaux
Vont crever aux quatre coins du monde
Pour servir de proies à tous les salauds,
Les filles de Bordeaux.

Die Töchter von Bordeaux,
Die sich aufs vage Meer hinaus wagen,
Täten besser daran,
es nicht aufs Wasser zu schieben,
Die Töchter von Bordeaux
Wollen zu den vier Ecken der Erde aufbrechen,
Um allen Drecksäcken als Freiwild zu dienen,
Die Töchter von Bordeaux.

J’attends un navire ist jenes Lied, in dem Marie voller Inbrunst ihre Sehnsucht nach der Heimat besingt und nach dem Schiff, das sie einmal dorthin zurück bringen wird. Es folgt auf diverse Hafenszenen, einen Seemannschor und eine kleine Unterhaltungsshow in der anrüchigen Dance Hall inklusive Tango. Danach treffen wir Marie auf der Straße wieder, wo sie ihrem Geschäft nachgeht, Männer anzulocken. Einem ihrer Freier singt sie dieses typische Weill-Lied im schlendernden Marschduktus, das in einem unvergesslichen Refrain gipfeln. Nicht zufällig wurde dieses Lied zum „Torch Song“ der Résistance – bei so viel französischem Lebensgefühl und so viel unerschütterlicher Hoffnung auf das Schiff, das doch einmal kommen muss. Zu Beginn hört man einen kurzen Dialog zwischen Marie und ihrem Freier Josiah: Er macht sie an, zuerst auf Englisch („Beautiful girl“), dann auf Italienisch („Bella donna“). Sie antwortet auf Französisch und bestimmt den Preis („Deux dollars, tu seras content“). Er solle sie nehmen, bezahlen und gehen („Prends-moi! Pays-moi! Et va-t’en“). Denn nicht er sei es, auf den sie warte, sondern das Schiff nach Bordeaux:

J’attends un navire
Qui viendra,
Et pour le conduire
Ce navire a
Le vent de mon cœur qui soupire,
L’eau de mes pleurs la portera;
Et si la mer veut le détruire,
Je le porterai, ce navire,
Jusqu’à Bordeaux entre mes bras!

Ich warte auf ein Schiff,
Das kommen wird,
Und um es zu lenken
Hat dieses Schiff
Den Wind meines seufzenden Herzens,
Das Wasser meiner Tränen wird es tragen;
Und wenn das Meer es zerstören will,
Werde ich es selbst, das Schiff,
In meinen Armen bis nach Bordeaux tragen.

Zwei Szenen später singt Marie in ihrer kleinen Wohnung ein Lied, das von ihrer Heimat Aquitanien erzählt: La Roi d’Aquitaine. Im Rhythmus eines langsamen Walzers träumt sie davon, wie der König von Aquitanien sie auf einem Markt entdeckt. Das Lied beginnt mit den Schreien der Marktweiber, die ihre Enten anbieten: die große weiße zu 20 Francs, die kleine blaue zu 6 Franc. Der König kauft erscheint und nimmt Marie bei der Hand: „Tant pis pour la Reine“, „schade für die Königin!“

Le Roi d’Aquitaine,
S’il vient au marché,
Pour servir la Reine
M’enverra chercher,
Le Roi d’Aquitaine
Me prendra la main.
Tant pis pur la Reine,
Demain.

Der König von Aquitanien,
Wenn er auf den Markt kommt,
Wird, um der Königin zu dienen,
Mich suchen lassen,
Der König von Aquitanien
Wird mich bei der Hand nehmen.
Schade für die Königin.
Morgen.

Le Grand Lustucru ist das letzte Lied, das Marie vor ihrem Tod singt. Sie erinnert sich an ein Kinderlied, das man ihr einst in Bordeaux sang: Le grand Lustukru von Théodore Botrel. Französische Mütter der dritten Republik sangen dieses Lied zu einer alten bretonischen Volksmelodie ihren Kindern vor: die Schauergeschichte vom „großen Lustukru“, dem Monster mit den klirrenden Ketten, das des Nachts die kleinen Kinder holt, die nicht schlafen wollen. Kurt Weill und sein Textdichter Jacques Deval griffen zwar Verse aus dem Kinderlied auf, aber nicht die Melodie. Die traurige Wiegenliedweise ersetzte Weill durch einen schauerlichen Marschtrott, der das unerbittliche Schreiten des klirrenden Ungeheuers illustriert. In der Nacht ihres Todes erinnert sich Marie an jene Schauergeschichte, die ihr einst die Mutter zum Einschlafen sang. Nun kann sie selbst nicht schlafen, und der Lustukru kommt, um sie zu holen. Ihre letzten Worte „je ne dors pas“ singt sie in Weills Vertonung immer langsamer werdend und morendo, also „sterbend“ – Marie stirbt tatsächlich. Der gekürzte Text lautet:

Quel est donc dedans la plaine
Ce grand bruit qui vient jusqu’à nous?
On dirait un bruit de chaînes,
Que l’on traîne sur des cailloux.
C’est le grand Lustucru qui passe,
C’est le grand Lustucru qui mangera
Tous les petits gars qui ne dorment pas.

C’est le grand Lustucru qui passe,
Et c’est moi qu’il vient chercher,
Moi parce que ce soir je ne dors guère,
Moi parce que ce soir je ne dors pas.

Welchen Lärm hört man dort draußen,
Den Lärm, der bis zu uns dringt?
Man würde sagen, es sei der Lärm von Ketten,
Die man auf dem Kies hinter sich her zieht.
Es ist der große Lustukru, der vorbeigeht,
Es ist der große Lustukru: Er frisst
Alle kleinen Jungen, die nicht schlafen.

Es ist der große Lustukru, der vorbeigeht
Und der mich sucht,
Mich, weil ich heute Nacht gar nicht schlafe,
Mich, weil ich nicht schlafen kann.