Zwölf Gedichte aus Pierrot lunaire, op. 4
Werkverzeichnisnummer:
Nr. 1 Gebet an Pierrot
Nr. 2 Raub
Nr. 3 Die Estrade
Nr. 4 Der Dandy
Nr. 5 Moquerie
Nr. 6 Sonnen Ende
Nr. 7 Nordpolfahrt
Nr. 8 Columbine
Nr. 9 Der Mondfleck
Nr. 10 Die Laterne
Nr. 11 Abend
Nr. 12 Heimfahrt
„Mondsüchtig sind die somnambulen Verse des belgischen Dichters Albert Giraud (1860-1929) um den zartesten aller Narren, Pierrot. Der Berliner Bohemien Otto Erich Hartleben (1864-1905) hat sie ins Deutsche gezaubert, der legendäre Münchner Verleger Georg Müller 1911 ein rokokoköses Büchlein daraus gemacht, mit einem strengen Vorwort von Franz Blei. Dem Komponisten Arnold Schönberg fiel es 1912 in die Hand (‚Habe Vorwort gelesen, Gedichte angeschaut, bin begeistert. Würde das auch ohne Honorar machen’), und es entstand sein Opus 21. Das ‚Libretto’ ist auch ohne Schönbergs Musik ein silbriges Vergnügen.“ So charakterisierte Benedikt Erenz 2005 in DIE ZEIT das Erscheinen einer Gesamtausgabe des Gedichtbandes Pierrot lunaire von Giraud in der Übersetzung von Hartleben. Diese Gedichte haben Musikgeschichte geschrieben – freilich nicht in Wien allein. Zur gleichen Zeit wie Schönberg interessierte sich auch der Frankfurter Anwalt, Sänger und Komponist Max Kowalski für Girauds Gedichte. Aus den 50 Gedichten des Pierrot lunaire wählte er 12 aus, die er für Singstimme und Klavier vertonte. Dieser Zyklus erschien 1913 im renommierten Musikverlag Simrock in zwei Heften als Kowalskis Opus 4.
Zehn Jahre vor dieser Veröffentlichung hatte Kowalski, der Sohn eines jüdischen Kantors aus Ostpolen, in der Synagoge Bingen als Kantor gewirkt. Dies bestärkte ihn in seiner Absicht, in Berlin Gesang zu studieren. Zum Brotberuf aber wollte er die Musik nicht machen: Er schloss in Marburg sein Jurastudium ab und ließ sich 1909 in Frankfurt als Anwalt mit dem Spezialgebiet Urheberrecht nieder. 1930 vertrat er Arnold Schönberg erfolgreich in dessen Klage gegen die Frankfurter Oper und durfte auch nach 1933 als „Altanwalt“, der vor 1914 zugelassen worden war, zunächst weiter praktizieren. Erst 1938 erhielt er Berufsverbot und wurde in Buchenwald interniert. Nach der Entlassung 1939 gelang ihm die Flucht nach England, wo er sich als Synagogensänger und Klavierstimmer über Wasser hielt. 1956 ist er in London gestorben. Seine Kompositionen waren damals längst vergessen, hatte er sich doch auf die Gattung des deutschen Kunstlieds spezialisiert. Sein Kompositionsstudium an Dr. Hoch’s Konservatorium hatte er neben der Anwaltspraxis absolviert. Von 1913 bis 1934 waren insgesamt 17 Opera mit Liedern und Klavierstücken erschienen. Obwohl er 1935 auch jüdische Lieder schrieb, blieben bis zu seinem Tod die großen deutschen Lyriker und deutsche Übersetzungen fernöstlicher Dichtungen seine wichtigsten Inspirationsquellen.
Pierrot lunaire, die französische Vorlage für Kowalskis Opus 4, erschien 1884, gedichtet von einem belgischen Landsmann Maeterlincks, dem Lyriker Albert Giraud, der 1860 in Löwen geboren wurde (als Marie-Émile-Albert Kayenbergh). Er gehörte zur Gruppe der „Parnassiens“, jener jungen belgischen Literaten, die im Umkreis der Zeitschrift La jeune Belgique eine neue Ästhetik vertraten. Auf seinen Pierrot lunaire ließ er acht Jahre später eine Fortsetzung folgen, den Pierrot narcisse. Außerdem erschienen Gedichtbände unter so blumigen Titeln wie Le sang des roses und La guirlande des dieux (beide 1910) sowie Le miroir caché (1921). Nach seinem Tod 1929 ist es um Giraud still geworden, besonders in den französisch sprachigen Ländern. Derzeit kann man in Frankreich keinen einzigen seiner Lyrikbände kaufen. Überlebt hat einzig der Pierrot lunaire in Hartlebens deutscher Übersetzung – dank der expressionistischen Vertonung durch Schönberg. Unsere Interpreten haben sich für die spätromantisch illustrative Liedfassung von Kowalski entschieden, der den Pierrot weit weniger experimentell aufgefasst hat. Vielmehr handelt es sich um einen spätromantischen Liederzyklus im ganz traditionellen Sinne – vom einleitenden Gebet an Pierrot bis hin zum Schlusslied, Pierrots Heimfahrt nach Bergamo.
Trotz der klar umrissenen Moll- und Durtonarten, die allenfalls einmal chromatisch changieren dürfen, bemühte sich Kowalski um einen eigenen Tonfall für das Groteske des Pierrot. Schon im Gebet an Pierrot lassen die kessen Triller des Klaviers und das Parlando der Singstimme die „lebhafte und kapriziöse“ Welt des Titelhelden erahnen. Raub ist bei Kowalski kein brutal zupackender Schocker wie bei Schönberg, sondern beginnt „langsam und schwer“, mit einer feierlichen Melodie in d-Moll-dorisch – Symbol für die „roten, fürstlichen Rubine“. Erst später wird die Musik lebhaft, „voll Angst“ und „voll Entsetzen“, wozu Kowalski quasi eine Erlkönig-Musik geschrieben hat. Gleißend hell klingen die Laufkaskaden, mit denen im Klavier der „phantastische Lichtstrahl“ im Dandy illustriert wird. Die leicht frivole Gesangsmelodie ist eine Art Forlane, ein Klangsymbol für die Serenadenwelt des „Dandys von Bergamo“. Auch sonst finden sich in der Musik Anspielungen auf italienisches Lokalkolorit: Bei der Nordpolfahrt treibt ein „Eisblock, schillernd weiß, scharf gewetzt vom Licht der Nächte,“ durch das eiskalte Wasser wie in einer erstarrten Barcarole – ein Gondellied bei Minusgraden. Hier hat Kowalski ein Giraud-Gedicht vertont, das sich in Schönbergs Pierrot lunaire nicht findet. „Des Mondlichts bleiche Blüten“, die berühmte Metapher aus Colombine, spiegelt sich bei Kowalski ganz traditionell in wogenden Akkordbrechungen wider. Der Mondfleck ist eine Art Tango, Zeugnis für die erste Tangowelle, die Europa just 1913/14 erfasste. Den Abend hat Kowalski als unheimliches Nachtstück über abgerissenen Akkorden Basstönen vertont. Sie geben ganz tonmalerisch den monotonen Rhythmus wider, den die Störche mit ihren langen Schnäbeln zusammenklappern. Pierrots Heimfahrt ist das Schlusslied, eine Heimkehr auch im Musikalischen.