Sonate B-Dur, op. 36 | Kammermusikführer - Villa Musica Rheinland-Pfalz

Henri Vieuxtemps

Sonate B-Dur, op. 36

Sonate B-Dur, op. 36

Besetzung:

Werkverzeichnisnummer:

Satzbezeichnung

Maestoso – Allegro
Barcarola. Andante con moto – Allegretto tranquillo – Tempo I
Finale scherzando. Allegretto

Erläuterung

In gängigen Kammermusikführern, selbst den französischen, sucht man den Namen Henri Vieuxtemps vergebens. Obwohl der Violinvirtuose aus dem belgischen Verviers drei Streichquartette und je eine Violin- bzw. Violasonate komponiert hat, gilt seine Kammermusik als „quantité négligeable“. Das Bild des Belgiers wird durch seine acht Violinkonzerte, seine beiden Cellokonzerte und die grandiosen Virtuosenstücke für Violine geprägt (Faust-Fantasie u.a.). Er gilt als romantischer Violinvirtuose vom Schlage eines Paganini, Sarasate oder Wieniawski – also genau das Gegenteil eines gediegenen Kammermusikers. Umso schöner, dass sich Sarina Zickgraf seine Bratschensonate als Finale ihres Konzerts herausgesucht hat. Es handelt sich um eine der wenigen spektakulären Originalsonaten für Viola aus der Romantik, erschienen 1863 im Leipziger Verlag Schuberth. Für die Originalbesetzung waren freilich schon damals kaum Käufer zu finden, weshalb der Verlag noch im selben Jahr eine Bearbeitung für Cello und Klavier ankündigte, die sich bald besser verkaufte als das Original.

Schon in der majestätischen langsamen Einleitung (Maestoso) hat Vieuxtemps die tiefe Lage der Bratsche wirkungsvoll ausgenutzt: In einer sonoren Linie langsamer, leiser Töne steigt sie vom B bis zum tiefen Es hinab, bevor sich ihre Melodie majestätisch in die Höhe schwingt, um am Ende wieder den Bogen zum Anfang zu schlagen. Zarte Akkorde des Klaviers begleiten diesen Gesang, zuletzt gebrochen nach Harfenart (Arpeggio). Diesen wunderschönen Anfang hat Vieuxtemps kurz vor Schluss des Satzes noch einmal wiederholt, und zwar eingeleitet von einem Rezitativ, einem imaginären „Sprechgesang“. So hat er deutlich gemacht, dass es sich um ein Arioso im Stil der großen Oper handelt. Auf diese opernhafte Passage gegen Ende des Satzes steuert das gesamte, furiose Allegro in immer neuen Anläufen zu. Dabei hat Vieuxtemps von den verschiedensten Strichtechniken Gebrauch gemacht: Ein erstes Thema aus Staccato-Triolen, ein weiches Seitenthema und eine rauschende Schlussgruppe aus Sechzehntelwellen formen diesen Sonatensatz.

Der Mittelsatz ist eine Barcarola, ein Gondellied, wie man es von Jacques Offenbachs Barcarole her kennt, aber auch von den Gondelliedern eines Felix Mendelssohn. Vieuxtemps hat den pendelnden Wellenschlag dieser Genrestücke zu einer regelrechten Szene aus dem nächtlichen Venedig ausgebaut. Über dem Wellenschlag des Klaviers stimmt die Bratsche ihren Gondoliere-Gesang an, eine einzige, ununterbrochene g-Moll-Melodie von 32 Takten Länge und von so rührendem Ausdruck, wie man ihn in der romantischen Kammermusik für Viola kaum ein zweites Mal findet. Das Klavier bleibt begleitend bis zum letzten, leisen G der Bratsche. Dann plötzlich mischt es sich mit chromatisch absteigenden Läufen ins nächtliche Bild ein, woraus ein kurzer, heftiger Dialog der beiden Partner entsteht, der in eine kleine Bratschenkadenz mündet. Damit hat Vieuxtemps den Boden für das Seitenthema des Satzes bereitet, ein Allegretto tranquillo in G-Dur. Con molta delicatezza, „mit großer Delikatheit“, setzt dieses zweite Gondellied ein, im geraden Takt und in fließenden Sechzehnteln, so als habe der Gondoliere mit seinen Passagieren einen engen düsteren Seitenkanal verlassen und steuere nun bei sanftem Wind auf den Canal Grande hinaus. Dabei wird der „Wellengang“ in der Klavierbegleitung deutlich stärker, während die Viola munter dagegen hält. Der Abschnitt klingt in einer Folge schillernder Akkordbrechungen des Klaviers leise aus, bevor mit einem wieder neuen Wellenrhythmus im Klavier die dritte Phase der Gondelfahrt einsetzt. DIeses Animato ist gewissermaßen die Durchführung des Satzes, eine raue Überfahrt hinüber zur Giudecca, wo der Gondoliere alle rhythmische Kunst anwenden muss, um gegen den Wellenschlag im Klavier zu bestehen. Endlich beruhigt sich das Fahrwasser wieder und der Gondoliere kann erneut sein melancholisches Lied vom Anfang anstimmen, während die Wellen sanft an seine Gondel schlagen (ein neues Klaviermotiv mit Akzent). Bei der Ankunft an der Kirche Il Redentore verabschiedet sich der Gondoliere noch einmal mit dem sanften Seitenthema in G-Dur von seinen Gästen.

Mit einem Finale scherzando, einem „scherzenden Finale“, schließt die Sonate. Das Thema fällt hier ausnahmsweise dem Klavier zu, ein gemütlich schlenderndes Allegretto, das mit allerhand Pralltrillern „alla Parisienne“ herausgeputzt ist. Die Bratsche lässt sich auf dieses neckische Spiel mit Pralltrillern ein, steuert seinerseits kurze Vorschläge bei und greift schließlich con grazia das Klavierthema auf. Unüberhörbar hat man es mit zwei jungen Liebenden zu tun, verstrickt in ein amouröses Tête-à-tête, das in den virtuosen Passagen auch übermütig werden kann. Immer wieder freilich kehren die beiden zur gemütlichen Melodie des Anfangs zurück. Erst ganz zum Schluss ließ VIeuxtemps der Virtuosität freien Lauf: Die letzte, stark akzentuierte Wiederholung des Finalthemas mündet in einen rauschenden Schluss.

Karl Böhmer