Klavierquartett B-Dur, op. 41
Werkverzeichnisnummer:
Allegretto
Andante maestoso ma con moto
Poco allegro più tosto moderato
Allegro
Im Reigen der großen romantischen Klavierquartette wird seines gerne vergessen: das Opus 41 des Camille Saint-Saëns. Der Schöpfer des Karnevals der Tiere, der „Orgelsymphonie“ und der Oper Samson et Dalila war auch ein standhafter Verfechter der Kammermusik, die in Frankreich erst nach dem Ende des Zweiten Kaiserreichs wieder aufzublühen begann. Schon vor 1871 war er leidenschaftlich für das Genre eingetreten – in der Epoche Napoleons III., der Hortense Schneider und der großen Offenbach-Operetten, als Paris alles andere im Sinn hatte als seriöse Kammermusik nach deutschem Vorbild. Damals schuf Saint-Saëns mit seinem ersten Klaviertrio Opus 18 ein Musterbeispiel einer eigenständigen französischen Kammermusik von „gallischer Klarheit“, wie man es damals nannte – in Abgrenzung von der „teutonischen“ Schwere und Ernsthaftigkeit. Dabei machte er aus seinen Sympathien für zumindest zwei deutsche Komponisten keinen Hehl: für Bach und für Schumann. Dies kann man auch dem Klavierquartett anhören.
Es entstand 1875, in einem Schlüsseljahr der französischen Musikgeschichte: Am 3. März erlebte Bizets Carmen ihre skandalöse Uraufführung, nur vier Tage später wurde im fernen Baskenland Maurice Ravel geboren. Saint-Saëns war damals 40 Jahre alt und auf dem Höhepunkt seines Ruhmes angekommen. Die Uraufführung seines Danse macabre für Klavier und Orchester im Januar wurde ebenso umjubelt wie die Premiere seines vierten Klavierkonzerts gegen Ende des Jahres. Dazwischen gönnte er sich ein kammermusikalisches Intermezzo in Form des Klavierquartetts, das er am 19. Februar 1875 in der Salle Pleyel in illustrer Runde aus der Taufe hob – mit dem Geiger Sarasate, dem Bratschisten Jacquard und dem Cellisten Alfred. Das Werk war auf Anhieb erfolgreich und ein kulturpolitisches „Statement“. Saint-Saëns protestierte dagegen, dass die Jury der gerade erst gegründeten Societé Nationale de Musique zu wenig Kammermusikwerke von den jungen Komponisten annahm und sie dadurch vehement in Richtung Orchestermusik drängte. Die umjubelte Premiere des Klavierquartetts hatte den gewünschten Erfolg: Im Folgejahr begann Fauré sein Klavierquartett Opus 15, vier Jahre später César Franck sein Klavierquintett.
Kein anderes Klavierquartett der Romantik beginnt so luftig leicht wie das B-Dur-Quartett von Saint-Saëns: Sanfte Akkorde des Klaviers rufen als Echo eine Arabeske in Geige und Bratsche wach. Beide Motive lösen einander gänzlich unaufgeregt ab. Leise tritt das Cello hinzu, und die Partner tauschen die Rollen: Die Akkorde liegen nun in der tiefen, satten Streicherlage, umspült von Arpeggi des Pianisten, der seinerseits die Arabeske aufgreift und zu einem Höhenflug nutzt. Auf ein hymnisches Forte folgt ein langer Anlauf der Streicher, umschwirrt von Klavierpassagen, bevor die Violine das Seitenthema anstimmt. Dessen Triolen kontrastieren wirkungsvoll mit dem Hauptthema und entfalten sich in einem wunderbaren Schumannesken Dialog der drei Streicher. Das Ganze ist wahrhaft ein „Allegretto“, ein heiteres kleines Allegro von sommerlich leuchtender Farbenpracht. Erst die Durchführung schlägt dramatischere Molltöne an, ohne jemals die Stimmung eines heiteren Sommertages auf dem Land ganz zu verlassen. Gegen Ende des Satzes steigt die Violine über zwei Oktaven in die Höhe, von zartesten Klavierakkorden gestützt. Absteigende Skalen im Klavier, kleine Seufzer der Streicher, eine letzte Arabeske – und schon hat sich die Musik im Sommerlicht aufgelöst. Man denkt an Argenteuil und die Rudererbilder eines Renoir, an die Mohnblumenfelder von Monet und die anderen Bilder der Impressionisten, die sie in jenem westlichen Vorort von Paris gemalt haben. Allzu oft wird vergessen, dass Saint-Saëns ein Zeitgenosse der impressionistischen Maler war, die ihn kannten und seine Musik liebten.
So leise der erste Satz beginnt, so kraftvoll setzt der zweite ein: mit einem Klavierpräludium in mächtigen Akkorden und barocken Rhythmen. In diesem Andante maestoso ma con moto in g-Moll gelang Saint-Saëns das Kunststück, Präludium, Choral und Fuge im Rahmen einer Sonatenform zur Einheit zusammenzuschweißen. Auf das kraftvolle Klavierpräludium im pseudo-Bachschen Stil antworten die Streicher mit einem feierlichen Choral im Unisono, zu dem das Klavier unausgesetzt sein gezacktes Begleitmotiv wiederholt. Nach der zweiten Choralzeile, die auf der Quint endet, greifen die Streicher ihrerseits das charakteristische Klaviermotiv auf und führen es durch, während das Klavier den Stollen des Chorals (die ersten beiden Zeilen) wiederholt. An diese beiden Stollen schließt sich nicht etwa der Abgesang des Chorals an, sondern eine Durchführungspartie, in die sich plötzlich eine Fuge einmischt. Das Fugenthema meldet sich kraftvoll im Klavier zu Wort: ein in die Höhe schnellender Lauf, gefolgt von der verminderten Quint abwärts und dem schon sattsam bekannten Motiv aus dem Präludium. Bratsche, Cello und Geige greifen dieses Thema nacheinander auf – mitten im Stimmengewirr der Durchführung. Über rasenden Klavierläufen strebt die Fuge einem Höhepunkt zu, als plötzlich wieder der Choral einsetzt, in Es-Dur in den Streichern, über einer quasi orgelmäßigen Begleitung des Klaviers. Die Musik wird leiser und weicher, bis das Klavier seinerseits den Choral anstimmt, nun wieder in g-Moll und leise wie zu Beginn. Die zweite Zeile wird von den Streichern im Pizzicato gespielt, worauf sich nochmals das Fugenthema zu Wort meldet. Es dient aber lediglich als Rückleitung zur Reprise: Das Klavier kehrt zu seinem g-Moll-Präludium vom Anfang zurück, dieses Mal grundiert von mächtigen Akkorden der Streicher. Ganz und gar orgelmäßig mutet der Schluss an, wenn die Streicher zum letzten Mal den Choral intonieren, im Fortissimo über rauschenden Klavieroktaven. Endlich führen sie ihn auch harmonisch zu Ende und vereinen sich im Tremolo mit dem Klavier zu einer Art Organo-Pleno-Klang. Saint-Saëns war nicht nur einer der größten Pianisten seiner Zeit, sondern auch ein genialer Organist und Bachinterpret, was man diesem Satz anhört.
Im dritten Satz ist die Nähe zum Danse macabre nicht zu überhören: Auf den langsamen Satz mit seinen massiven g-Moll-Klängen ließ Saint-Saëns ein gespenstisch leises Scherzo in d-Moll folgen. Es ist ein trippelndes Tanzstück aus lauter Staccato-Triolen im Rhythmus einer barocken Forlane, die anfangs in blasser Einstimmigkeit auftritt – ein „Gespensterreigen“ (Émilie Baumann). Wenn die fahle Zeichnung endlich Farbe gewinnt, wirken auch die Harmonien und Begleitfiguren reichlich makaber. Mal erscheint das Thema schneller, mal langsamer, mal wird es von einem Rezitativ der Violine unterbrochen, mal von einem des Klaviers. In der Mitte macht es kurz Platz für einen Tanz im geraden Takt in B-Dur, bevor es gegen Ende immer schneller und schneller wird – ein rasender Reigen, den man sich gut als Ballettmusik vorstellen könnte.
Auch im Finale war der Komponist weit davon entfernt, der Konvention zu folgen: keine Rückkehr zur Grundtonart, stattdessen ein trotziges d-Moll-Allegro im Alla-Breve-Takt, das gleichermaßen an Schumann wie an das Finale von Mozarts d-Moll-Klavierkonzert erinnert. Gegen Ende dieses ausgiebigen Satzes mit seinen Steigerungen und Durchführungspartien dünnt die Musik langsam aus, wird schemenhaft und scheint im Klavier ganz zu verschwinden, bis plötzlich – nach einem harmonisch mehrdeutigen Akkord der Streicher –das Hauptthema des ersten Satzes wieder auftritt, in B-Dur freundlich leuchtend und unbekümmert, als sei nichts gewesen. Auch die Triolen des Seitenthemas melden sich wieder zu Wort, werden aber sofort in den Strudel eines Accellerando hineingerissen. Es mündet erneut in eine Fuge: Im Klavier erscheint das Choralthema aus dem langsamen Satz wieder, nun in Dur und als Thema einer Doppelfuge, als deren zweites Thema die Triolen aus dem ersten Satz fungieren. Natürlich darf in dieser Apotheose auch nicht das Finalthema fehlen, das nun endlich von d-Moll in die „richtige“ Tonart B-Dur versetzt und zu einem orgiastischen Schluss geführt wird. Wer immer geglaubt hatte, Saint-Saëns sei nur ein Meister der Arabeske und des Capriccio, den belehrt dieses Finale eines Besseren: Das romantische Finalproblem – Zusammenfassung aller vorangegangenen Sätze – ist kaum jemals so elegant und klug gelöst worden wie hier.