Vier Klavierstücke, op. 119 | Kammermusikführer - Villa Musica Rheinland-Pfalz

Johannes Brahms

Vier Klavierstücke, op. 119

Vier Klavierstücke, op. 119

Besetzung:

Werkverzeichnisnummer:

Satzbezeichnung

Intermezzo h-Moll. Adagio

Intermezzo e-Moll. Andantino un poco agitato

Intermezzo C-Dur. Grazioso e giocoso

Rhapsodie Es-Dur. Allegro risoluto

Erläuterung

Mit den Klavierstücken Opus 119 betreten wir die matt verhangenen Klangräume des späten Brahms, zarte Gespinste aus schüchternen Gesten und gefühlssatten Vorhalten, in denen die tiefe Melancholie des Komponisten kaum je einmal laut klagend an die Oberfläche tritt – und wenn doch, dann mit erschütternder Wucht.

Entstanden sind die vier Stücke im Sommer 1893 in Bad Ischl, zusammen mit ihren Schwesterwerken, den sechs Klavierstücken Opus 118. Die Kurstadt im Salzkammergut wurde zur Sommerfrische des alternden Brahms, dem es sichtlich Freude bereitete, in seiner kernig-bürgerlichen Manier wider den Stachel des aristokratischen Kaiserbad-Gehabes zu löcken. So hat ihn der Wiener Satiriker Daniel Spitzer beschrieben: „Geht man gegen zwei Uhr nachmittags in das Café Walter, so sieht man an einem Tische im Freien, Kaffee trinkend und Zigaretten rauchend, einen sehr kräftigen, untersetzten Fünfziger mit blondem Haar, die hoch geröteten Wangen von einem grauen Bart eingerahmt, und mit blitzenden blauen Augen, denen man ansieht, dass in der geistigen Werkstätte dieses Mannes fortwährend gehämmert und geschmiedet und niemals gefeiert wird. In seiner Brust toben manchmal vielleicht wilde Stürme, aber an der Oberfläche sieht man nichts wie ein sich ewig gleich bleibendes Jägersches Normalhemd. Es ist Johannes Brahms, der sich diesmal entschlossen hat, einen Sommer ausschließlich in Ischl zuzubringen. Er ist in größerer Gesellschaft sehr wortkarg und brummt nur zeitweilig eine ironische Bemerkung; im intimen Kreise aber nimmt er lebhaft an der Unterhaltung teil.“

Aus der „geistigen Werkstätte“ des Komponisten entsprangen in acht Ischler Sommern seine gesamten, wundervollen Spätwerke, die Opera 108 bis 122, darunter auch vier Bände mit Klavierstücken. Die Vier Klavierstücke Opus 119 schickte er zwischen Mai und Anfang Juli 1893 an Clara Schumann – eines nach dem andern, wie sie eben fertig wurden, als Sommerbotschaften an die ferne Freundin in Frankfurt. Obwohl er die Stücke scheinbar für sie geschrieben hatte, wurden sie doch nicht von ihr zur Uraufführung gebracht, sondern von ihrer blutjungen Schülerin Ilona Eibenschütz. Die Tochter eines jüdischen Kaufmanns aus Budapest reüssierte in Wien als Wunderkind und kam mit 14 Jahren nach Frankfurt, um bei Clara Schumann zu studieren. Anfang 1894, mit 21 Jahren, hob sie das Opus 119 von Brahms in der St. James Hall zu London aus der Taufe. Wie es dazu kam, hat die alte Dame 60 Jahre später in einem Interview erzählt, in ihrem typischen Englisch mit dem harten ungarisch-wienerischen Akzent. Erst 1967 ist Ilona Eibenschütz in London gestorben, im Alter von 95 Jahren – eine der letzten Zeitzeuginnen der Brahmsära.

Im besagten Interview erzählte sie zunächst, wie sie mit 15 Jahren in Frankfurt zur „glühenden Brahmsianerin“ wurde, als sie den Meister in seiner d-Moll-Violinsonate erlebte, wie sie ihn 1891 in Wien wiedertraf und endgültig für sich einnahm, als sie Beethovens Opus 111 im Konzert spielte. Da sich die Familie Eibenschütz jeden Sommer für drei Monate in Ischl aufhielt, machte es sich Brahms zur Gewohnheit, einmal wöchentlich zum Mittagessen vorbeizuschauen. Er genoss die ungezwungene Atmosphäre im Kreis der Familie, ohne offizielle Verpflichtungen. Auch nebenan, in der Villa seines Freundes Johann Strauß, verkehrte Ilona mit ihren Eltern regelmäßig. So kamen sich der Komponist und die junge Pianistin allmählich näher. Er lauschte, die Zigarre im Mund, ihrem Spiel des g-Moll-Klavierquartetts Opus 25 bei einer Soirée im Hause Strauß und zeigte sich auch von ihrer Aufführung der drei Violinsonaten mit einem amerikanisch-österreichischen Geiger begeistert. Dann kam der Sommer 1893, die Premiere der neuen Klavierstücke:

„Es war ein unvergessliches Vergnügen für mich, als Brahms eines Tages im Sommer 1893 nach dem Abendessen zu mir sagte: ‚Ich werde Ihnen vorspielen, was ich gerade komponiert habe. Ich möchte, dass Sie es einstudieren.’ Nur meine Familie durfte zuhören, aber nicht im Musikzimmer, sondern von draußen, auf der Treppe. Er probierte nur kurz das Klavier aus und begann zu spielen, die g-Moll-Ballade, die Intermezzi, schließlich alle Klavierstücke Opus 118 und 119. Er spielte, als würde er improvisieren, mit Herz und Seele, manchmal vor sich hin summend, alles um sich herum vergessend. Sein Spiel war alles in allem groß und edel, wie seine Kompositionen. Es war natürlich die wundervollste Sache für mich, diese Stücke zu hören, von denen noch niemand etwas ahnte. Ich war die erste, für die er sie spielte. Als er fertig war, war ich sehr aufgeregt, und wusste kaum, was ich sagen sollte. Ich murmelte nur, ich müsse sofort darüber an Frau Schumann schreiben. Er sah mich an und sagte: ‚Aber sie haben Ihnen doch gar nicht gefallen! Wie können sie etwas darüber schreiben?’ Und mit einem Augenzwinkern fügte er hinzu: ‚Sie haben nicht ein einziges Stück Da Capo verlangt!’ Ich war geistesgegenwärtig genug zu antworten: ‚Ich würde sie am liebsten alle Da Capo hören, aber nicht heute!’ Er lachte und spielte sie mir ein paar Tage später noch einmal vor. Einige Monate danach spielte ich die Uraufführung der Stücke in den Monday Popular Concerts in London.“ Ob Clara Schumann nicht ein wenig eifersüchtig war auf ihre junge Schülerin aus Budapest, die mit einer so bedeutenden Brahmsnovität in die Schlagzeilen kam? Später warf sie Ilona Eibenschütz vor, die späten Klavierstücke von Brahms viel zu schnell gespielt zu haben!

Über den Titel der Sammlungen Opus 118 und 119 war sich Brahms lange im Unklaren: „Phantasiestücke ganz unmöglich“, schrieb er an seinen Verleger Fritz Simrock und schloss auch „Charakterstücke“ kategorisch aus. Nur halbernst brachte er für die „lamentablen Stücke“ den Titel Monologe ins Spiel, auch Improvisationen. Beide hätten gut gepasst, denkt man an Brahms’ eigenen, wie improvisiert wirkenden Vortrag der Stücke und an ihren intimen Ton, der sie wie Selbstgespräche erscheinen lässt. Am Ende blieb es bei der simpelsten Lösung: Klavierstücke. „Es bleibt wohl nichts übrig als ‚Klavierstücke’! Schließlich heißen ja die einzelnen Stücke auch immer mit denselben Namen: Intermezzi, Kapricen, Rhapsodien usw. Die Leute finden doch ihre Lieblinge heraus.“

Der Zyklus beginnt mit einem Adagio in h-Moll, dessen gebrochene Akkorde in herbstlich flimmernder Luft zu schweben scheinen wie am Weinstock hängende Trauben. Ausdrucksvolle Vorhalte, schmerzliche „Appoggiaturen“, durchziehen dieses Intermezzo von Anfang bis Ende. Das zweite Intermezzo in e-Moll wirkt drängender, brodelnd unter traurig-resignierter Oberfläche, wie schon die Tempoanweisung andeutet: Andantino un poco agitato. Auf den ungarisch getönten Hauptteil folgt als Trio ein zutraulicher Ländler, so schön, wie Brahms nur je einen geschrieben hat. Freilich nisten sich auch hier bald Mollseufzer ein, bevor der Hauptteil wiederkehrt. Eine Reminiszenz an den Ländler-Mittelteil bildet das poetische Schlusswort.

Im dritten Intermezzo wollte Brahms mutwillig humorvoll sein: Grazioso e giocoso in C-Dur, tänzerischer Sechsachteltakt, ein joviales Thema. Freilich ist es ein hintergründiger Humor, denn der Rhythmus wird subtil gegen den Takt verschoben und die knapp zwei Minuten des Stückes verharren durchweg im molto piano e leggiero. Erst im letzten Stück darf der Pianist auftrumpfen: Fröhlicher Hörnerschall tönt durch den Wald, die Musik wirkt endlich kraftvoll zupackend, Allegro risoluto in Es-Dur. Ursprünglich wollte Brahms auch dieses vierte Stück Intermezzo nennen, entschied sich dann aber für Rhapsodie. Es ist das virtuoseste und orchestralste der vier Stücke, so dass es Brahms am liebsten selbst orchestriert hätte. Sein Biograph Max Kalbeck meinte dazu: „Zwei Hände reichen kaum aus, um das gewaltige Stück zu bändigen, und manchmal seufzt das Klavier nach dem Orchester.“

Tatsächlich wurde Brahms bald nach der Drucklegung der Stücke von seinem Verleger Fritz Simrock gebeten, sie für Orchester zu arrangieren. In seinen Briefen hat er auf dieses Ansinnen mit beißender Ironie reagiert, denn Arrangements jeglicher Art waren ihm ein Greul. Mit diesen scheint er anfangs geliebäugelt zu haben, wie aus einem Brief Mitte November 1893 hervorgeht, in dem er Simrock mahnte: „Lassen Sie ja nicht die letzte Rhapsodie (op. 119 Nr. 4) von einem Leipziger Konservatoristen orchestrieren! Liebe täte ich es selber.“ Schon einen Monat später folgte die ironische Distanzierung: „Sie geben doch auch ein Potpourri über das letzte Werk heraus?“ Im September 1894 erteilte er dann dem gesamten Projekt eine rüde Absage: „Nun sagen Sie aber doch: Bringen denn Ihre verfluchten Orchesterarrangements gar soviel Geld ein, und ist die ganz unkünstlerische Geschmacklosigkeit deshalb so gar durchaus nötig? Ich habe bisweilen daran gedacht, mehrere Klavierstücke zusammenzufassen und daraus eine Art größere Rhapsodie für Orchester zu machen. Das bloße Klavierstück ist eben kein Orchesterstück und wird keines. Gehört es durchaus zum Geschäft, so warten Sie doch wenigstens, bis es jemand von sich aus macht – und Effekt damit macht! …. Sie haben von mir ja schon einen (Abschied) in 7 Heften, die noch in 77 Arrangements erscheinen können und werden!“ Aus der letzten Äußerung geht hervor, wie sehr Brahms seine Klavierhefte des Jahres 1893 als klingenden Abschied verstanden hat – als einen „Abschied in 7 Heften“.