Quartetto No. 1 für Streichquartett
Werkverzeichnisnummer:
Cantilena (Andante)
Brincadeira (Allegretto scherzando)
Canto lírico (Moderato)
Cançoneta (Andantino quasi allegretto)
Melancolia (Lento)
Saltando como um Saci (Allegro)
Suíte Graciosa war der ursprüngliche Titel, den Villa-Lobos seinem ersten Streichquartett gab. Die damals noch drei Sätze von 1915 waren in der Tat einer graziösen, heiteren Atmosphäre verpflichtet, was zur Lebenssituation des damals Achtundzwanzigjährigen passte. Seit drei Jahren glücklich verheiratet (mit der Pianistin Lucília Guimaraes), wurde der unstete Wanderer endlich sesshaft. Er gab seine Werke im Druck heraus und sorgte für ihre Aufführung in den Salons von Rio de Janeiro. Zu diesem Zweck komponierte er die „graziöse Suite“, aus der erst 1946 das Erste Streichquartett werden sollte. Das Manuskript ist auf den 5. März 1915 datiert und wurde im Dezember desselben Jahres im Haus des Komponisten Homero de Sá Barreto in Nova Friburgo ein einziges Mal aufgeführt. Dann zog es Villa-Lobos zurück, vielleicht weil er es für zu intim hielt, um es in Rio vorzustellen.
Zu diesem Frühwerk haben ihn die verschiedensten Musiken inspiriert: die Tangos und Polkas des legendären Ernesto Nazareth, die Filmmusik, die Villa-Lobos als Cellist in Kinoorchestern spielte, und die Folklore Brasiliens mit ihren afrikanischen Rhythmen, indianischen Melodien und portugiesischen Gesangsformen. In seinen Wanderjahren am Amazonas hatte Villa-Lobos diese Musik ebenso intensiv studiert wie das Leben im Urwald. In den Salons von Paris hat er darüber später wilde Abenteuergeschichten erzählt, am liebsten die von seiner Errettung vor den Kannibalen. Sie sollen ihn nur deshalb nicht verspeist haben, weil er ihnen auf dem Cello eine Bachsuite vorspielte! Die Franzosen feierten den Brasilianer für solche Schwarten als wahren „Salonlöwen“. Doch die „roaring Twenties“ in Paris lagen noch in weiter Ferne, als Villa-Lobos sein frühes Quartett komponierte. Ein Jahr später sollte er mit seiner Symphonischen Dichtung Amazonas dem großen Strom das erste Denkmal setzen. Die Suite für Streichquartett wirkt dazu wie ein sanftes Präludium.
Als er sie 1946 wieder hervorholte, um sie zu überarbeiten, war er schon der Großmeister und allmächtige Funktionär der Brasilianischen Musik. Angeblich soll er die Partitur aus der Erinnerung neu aufgeschrieben haben, weil er die Suita Graciosa nicht mehr finden konnte. Er fügte drei neue Sätze hinzu und nannte das Ganze nun klassisch Streichquartett Nr. 1. Es war der Quartetterstling eines fast sechzigjährigen Komponisten! In der Anlage verbinden sich alte und neue Sätze. Aus der Suita Graciosa stammen die Cantilena des ersten Satzes, das Scherzo des zweiten und der vierte Satz, die Cançoneta.
Das Quartett beginnt mit der wunderschönen Cantilena von 1915. Die erste Geige schwingt sich mit einem eleganten Achtelbogen über einem Vorhalt des Cellos auf die Tonart C-Dur ein, die jedoch bald in den schönsten Mollharmonien changiert. Der ruhige Dreiertakt und die ständigen Vorhalte im satten vierstimmigen Satz verleihen dieser „Kantilene“ eine wehmütige Aura. Erst allmählich schwingt sich die erste Geige in höhere Lagen auf, stets mit dem schönen Bogen des ersten Taktes. Eine Kürzestreprise des Anfangs beendet den Satz in reinem C-Dur.
Darauf folgt die Brincadeira, portugiesisch für „Scherz“. In der Urfassung hieß dieses Scherzo in äolischem a-Moll noch Brinquedo. Über dem Pizzicato von Cello und Bratsche setzen die Geigen mit einer indianischen Melodie ein, die direkt von Antonín Dvorak stammen könnte, Nur ein paar brasilianische Synkopen unterbrechen die heiteren 80 Sekunden dieses Satzes.
Canto lirico hat Villa-Lobos den dritten Satz überschrieben, also „Operngesang“. Die Bratsche beginnt mit einem Solo in der Tenorlage, einer anrührenden Melodie in A-Dur im Dreiertakt, die bald überlagert wird von den hohen Gesangslinien der ersten Violine. Das Ganze ist wohl als Abschiedsduett zwischen dem Tenor und der Primadonna zu verstehen. Denn plötzlich setzen gewichtige Achtelabgänge im Cello ein, die das unabwendbare Schicksal andeuten. Die erste Geige reagiert darauf mit einer flehenden Melodie, die sich immer mehr steigert, bis sie auf einer Fermate abbricht. Danach kehrt das Tenorsolo der Bratsche wieder, erneut begleitet von den Seufzern der Primadonna. Der Held nimmt nun endgültig Abschied von seiner Geliebten.
Auch der vierte Satz entstammt der Vokalmusik, eine Cançoneta. Dieses „kleine Lied“ ist jedoch nicht im Opernhaus angesiedelt, sondern auf den Straßen von Rio de Janeiro, ein fröhlich schlendernder Schlager. Er wird zunächst von der ersten Geige über pulsierenden Triolen des Cellos angestimmt, bevor im Mittelteil die Rollen getauscht werden: Nun greift das Cello das Liedchen auf, forsch, in tiefer Lage, von Staccati der Oberstimmen begleitet. Die flötenden Geigen antworten darauf mit der nächsten Strophe. Ob man es mit einem Flirt zu tun hat?
Melanconia hat Villa-Lobos den vierten Satz genannt, „Melancholie“. Die Streicher setzen die Dämpfer auf ihre Saiten, und das Cello stimmt eine schwermütige Melodie in f-Moll an. Sie wird von der ersten Geige aufgegriffen und langsam in die Höhe geführt, wo sie auf einem reinen c-Moll-Akkord vorläufig endet. Etwas bewegter (Più posso) setzt ein Mittelteil ein, der unruhig durch die Tonarten schweift – Sinnbild für die um sich selbst kreisenden, schwermütigen Gedanken des Melancholikers. Wenn das Lento des Anfangs wiederkehrt, hat das Cello seinen großen Moment, ein kurzes Aufflackern heftiger Verzweiflung, bevor wieder die Violinmelodie einsetzt und in reinem f-Moll schließt, im dreifachen Piano. Villa-Lobos nahm sich hier den Melancholie-Satz aus Beethovens Quartett Opus 18 Nr. 6 zum Vorbild. So wie dort auf die Schwermut ein heiteres Tanzfinale folgt, so ist es auch hier.
Saltando Como Um Saci, „Hüpfend wie eine Saci“, hat Villa-Lobos über das Finale geschrieben. Der Titel wird nur verständlich, wenn man es schon einmal mit „Jumping Beans“ aus Lateinamerika zu tun hatte, auf Portugiesisch „Saci“ genannt. Im Innern dieser Bohnen entwickeln sich die Larven eines Falters. Sobald sie mit Hitze in Berührung kommen, etwa mit dem Sonnenlicht, versuchen die Larven zu fliehen und bewegen von innen die Bohne, die dann zu hüpfen beginnt. Villa-Lobos nahm sich dieses Phänomen zum Vorbild für eine Fuge in C-Dur mit einem lustig springenden Thema, das von der Bratsche vorgestellt wird. Keineswegs streng bewegt sich das Thema durch die Stimmen und geht bald in Haydneske Borduneffekte über. Nach einem zweiten Fugendurchlauf beschließt das Thema im Unisono aller Instrumente das Quartett in heiterster Stimmung – ganz so wie Beethoven in seinem C-Dur-Quartett Opus 59 Nr. 3, nur gemächlicher im Tempo.