Concerto da camera D-Dur, RV 95, La pastorella („Die Schäferin“)
Werkverzeichnisnummer:
Schäferkonzert für einen hessischen Landgrafen
Vor genau 300 Jahren, im Dezember 1718, begann für Antonio Vivaldi kein geruhsamer Advent in seiner Heimatstadt Venedig, sondern ein turbulenter Monat voller Opernvorbereitungen in der Stadt Mantua. Die alte Residenzstadt der Gonzaga in der Poebene stand seit 1706 unter kaiserlicher Verwaltung. Im Spanischen Erbfolgekrieg hatten sich die Gonzaga auf die Seite Frankreichs geschlagen und waren von den Kaiserlichen aus ihrer Residenzstadt vertrieben worden. Wo 110 Jahre zuvor Claudio Monteverdi seinen Orfeo und seine Arianna dirigiert hatte, leitete nun Antonio Vivaldi seine Opern. Als Statthalter in Mantua hatte der Kaiser den Landgrafen Philipp von Hessen-Darmstadt eingesetzt, der nicht nur ein großer Kriegsmann, sondern auch ein Opernliebhaber war. Er stammte zwar aus einem lutherischen Herrscherhaus, war aber vor seiner Hochzeit zum katholischen Glauben konvertiert und hatte sich als Befehlshaber der Kaiserlichen Italienarmee im Spanischen Erbfolgekrieg bewährt. Kaum war er 1714 nach Mantua gekommen, da streckte der Landgraf seine Fühler nach Venedig aus. 1718 gelang es ihm endlich, Vivaldi für seine Hofkapelle zu verpflichten – hauptsächlich, um ihm immer neue Opern zu schreiben.
Erstaunlich, dass es Vivaldi neben all den Operngeschäften in Mantua immer auch gelang, kleine feine Kammerkonzerte für den Landgrafen zu schreiben. Um dessen hervorragende Bläsersolisten ins rechte Licht zu rücken, gab es keine bessere Gattung als Concerti da camera, klein besetzte Konzerte ohne Streichorchester, in denen jener Beteiligte zum Solisten wird, im Schlagabtausch mit den anderen. Viele dieser Juwelen Vivaldischer Kunst tragen Titel, und eines mutet in seinem Thema fast weihnachtlich an: das Concerto La Pastorella, „Die Schäferin“, RV 95.
Obwohl die Heilige Schrift nur von männlichen Hirten in Bethlehem berichtet, haben die Maler in ihren Darstellungen der Heiligen Nacht immer auch Hirtinnen an die Krippe des Jesuskindes gestellt. Um eine solche mag es in dem Concerto gehen. Im ersten Allegro tritt sie mit den Tanzschritten eines Bauerntanzes auf und beweist in ihrem Solo, dass sie auch virtuose Koloraturen „singen“ kann. Das Fagott ist dabei ihr ständiger Begleiter. Im Mittelsatz bleibt die Flöte mit Fagott und Cembalo alleine und singt eine Siciliana, eine jener sanft wiegenden Arien im Rhythmus eines sizilianischen Volkstanzes, die sich auch im barocken Venedig größter Beliebtheit erfreuten. In seinem großen weihnachtlichen Gloria hat Vivaldi diesen Rhythmus zum Lobpreis Gottes und seines Sohnes eingesetzt, so auch in diesem weihnachtlichen Hirtenkonzert. Im Finale stimmen alle Instrumente in den tänzerischen Lobgesang auf das Jesuskind ein, und aus der Höhe scheinen sich auch die Engel einzumischen. Ob dieses Concerto tatsächlich eine Weihnachtsgabe des rothaarigen Priesters Vivaldi an seinen deutschen Dienstherren in Mantua war, weiß man nicht. Es hätte aber gut in den Advent 1718 hineingepasst.