Klavierstücke | Kammermusikführer - Villa Musica Rheinland-Pfalz

Karlheinz Stockhausen

Klavierstücke

Klavierstücke

Besetzung:

Werkverzeichnisnummer:

Satzbezeichnung

Klavierstück IX

Erläuterung

Alexander Lonquich beginnt seinen Klavierabend mit einem Schock: Ein dissonanter Akkord, im Fortissimo angeschlagen, wird 142 mal wiederholt, kontinuierlich leiser werdend, dann noch einmal 88 mal, vom Fortissimo bis zum Pianissimo abnehmend. Plötzlich stellt sich ihm ein spärliches, einstimmiges Thema entgegen, eine chromatisch gewundene Weise, bis der Akkord wieder einsetzt. Seine vier Töne werden bewusst nicht synchron angeschlagen, auch das Nicht-Ansprechen der Tasten beim Leiserwerden ist einkalkuliert. Es war Karlheinz Stockhausen, der mit diesem rüden Beginn seines Klavierstücks IX das Publikum in einem WDR-Konzert 1962 provozierte.

Stockhausen vereinige viele Facetten des modernen Künstlers in sich: das Sendungsbewusstsein des Auserwählten, dessen Musik in die Transzendenz hinüberreicht, den Klangmagier des Monumentalwerkes Licht, aber auch den Agent provocateur der Avantgarde. Seltsamerweise ist er in weiten Kreisen des Publikums vor allem als Letzterer im Gedächtnis geblieben, als „rotes Tuch“, dabei ist seine Musik im Detail so sinnlich und anziehend, dass sie im Repertoire jüngerer Musiker mittlerweile einen festen Platz hat.

Dies gilt auch zunehmend für jene 19 Werke, der er unter dem Titel Klavierstück hinterlassen hat, obwohl fünf davon für elektronische Klangquelle bestimmt sind. Die 14 echten Klavierstücke nehmen in seinem Gesamtwerk von mehr als hundert, zum Teil abendfüllenden Werken keinen breiten Raum ein. Er selbst nannte sie „meine Zeichnungen“. Trotz dieses Skizzenhaften lösten sie bei ihren Uraufführungen regelmäßig wütenden Protest und Skandale aus, weil sie so kompromisslos alle Erwartungen an ein romantisches „Klavierstück“ enttäuschten, ja dieses Klaviermusik-Klischee mit Verve geradezu hinwegfegten. Insbesondere die Klavierstücke Nr. I bis XI aus den Fünfziger und frühen Sechziger Jahren waren lange Zeit angefeindete Vehikel der Avantgarde-Ästhetik. Heute gelten sie dagegen vielen bedeutenden Pianisten als Repertoirestücke – trotz oder auch wegen ihrer eminenten spieltechnischen Anforderungen.

Klavierstück IX, uraufgeführt 1962 beim WDR in Köln, beruht auf zwei stark kontrastierenden Ideen: dem repetierten, dissonanten Akkord und der schwebenden chromatischen Linie.

Der dissonante Akkord wird ständig repetiert, und zwar in vorgegebenen rhythmischen Einheiten, an deren Beginn er jeweils Fortissimo erklingt. Die Anzahl seiner Wiederholungen und die rhythmischen Proportionen des chromatischen Themas legte Stockhausen anhand der Fibonacci-Reihe fest, in der jede Zahl der Addition der beiden vorhergehenden entspricht (1, 2, 3, 5, 8, 13, 21 usw.). Insgesamt wird der dissonante Akkord 280 mal angeschlagen. Stockhausen rechnete für die vier Töne der wiederholten Akkorde mit ungleichzeitigem Anschlag, der Pianist der Uraufführung, Alois Kontarsky, hatte freilich einen so gnadenlos kontrollierten Anschlag, dass der Komponist bei ihm die „Zerlegung“ der Akkorde extra einfordern musste.

Diesem harten Repetitionsmodell steht die fast träumerische, in Halbtönen aufsteigende Phrase gegenüber, bei der jede Note eine andere Dauer hat. Nach dem anfänglichen Alternieren der beiden Gedanken schieben sie sich allmählich in- und übereinander, um gegen Ende in einer Art Synthese zusammengeführt zu werden, in einem „Gewebe von schnellen, unregelmäßig voneinander abgesetzten periodischen Gruppen im hohen Register.“