Las Cuatro Estaciones Porteñas | Kammermusikführer - Villa Musica Rheinland-Pfalz

Astor Piazzolla

Las Cuatro Estaciones Porteñas

Las Cuatro Estaciones Porteñas (Die vier Jahreszeiten von Buenos Aires) für Klaviertrio

Besetzung:

Werkverzeichnisnummer:

Satzbezeichnung

Verano Porteño (Sommer, Allegro moderato)
Otoño porteño (Herbst, Allegro moderato)
Invierno Porteño (Winter, Lento)
Primavera Porteña (Frühling, Fuga, Allegro)

Erläuterung

Unter den vielen Geschichten, die der argentinische Altmeister des „neuen Tango“ aus seinem langen Leben zu erzählen wusste, ist vielleicht diejenige seiner Begegnung mit Nadia Boulanger in Paris die schönste. Piazzolla kam vom Tango her, sein Instrument war das Bandoneon, eine argentinische Harmonika, doch er war zugleich ein hoch begabter Komponist. Also wurde er vom größten argentinischen Komponisten jener Epoche, Alberto Ginastera, auf die Pfade der europäischen Klassik gelenkt und begann, Sinfonien zu schreiben. Mit diesen großen Werken im Gepäck trat er die Reise nach Paris an, wo er wie zahllose andere Komponisten aus Nord- und Südamerika bei der legendären Nadia Boulanger studierte. Doch lassen wir den Rest der Geschichte ihn selbst erzählen:

„Als ich sie traf, zeigte ich ihr meine Tonnen voller Sinfonien und Sonaten. Sie schaute sie durch und fällte dann ein erschütterndes Urteil: ‚Sehr gut geschrieben!‘ sprach sie, unterbrach mit einem Punkt so groß wie ein Fußball und fuhr nach einer langen Pause fort: ‚Hier klingt es wie Strawinsky, dort wie Bartók, da wie Ravel. Nur Piazzolla kann ich nirgendwo finden.‘ Dann fragte sie mich über mein Privatleben aus, ob ich eine Frau oder eine Freundin hätte, sie war wie ein FBI Agent! Ich schämte mich, ihr zu erzählen, dass ich Tango-Musiker sei. Ich sagte ihr, ich spielte in einem Nachtclub, weil ich das Wort ‚cabaret‘ vermeiden wollte. Sie antwortete ‚Night club, mais oui, but that is a cabaret, isn’t it?‘ Ich musste es bejahen und dachte, ich erschlage diese Frau mit einem Radio – sie zu belügen, war nicht leicht! Sie fragte weiter: ‚Sie sind kein Pianist. Was ist ihr Instrument?‘ Ich wollte ihr nicht sagen, dass ich ein Bandoneon-Spieler war, weil ich dachte, dann wirft sie mich aus dem vierten Stock! Endlich gestand ich und sie bat mich, ein paar Stücke zu spielen. Plötzlich öffnete sie die Augen und sagte: ‘Sie Idiot! Das ist Piazzolla!‘ Und ich nahm die ganze Musik, die ich die letzten zehn Jahre geschrieben hatte, und schickte sie zur Hölle. Ich studierte bei ihr 18 Monate, die mir halfen wie 18 Jahre, denn sie lehrte mich, an Astor Piazzolla zu glauben, und daran, dass meine Musik nicht so schlecht war, wie ich gedacht hatte. Ich hatte geglaubt, ich sei ein Stück Dreck, weil ich in einem Cabaret Tangos spiele, doch gerade das war ja mein Stil. Es war die Befreiung vom verschämten Tangospieler zu einem selbstbewussten Komponisten.“

Als Piazzolla diese Geschichte kurz vor seinem Tod 1992 einem Journalisten in einem Interview erzählte, war er bereits längst zum Großmeister des „Tango nuevo“, des neuen Tango, avanciert. Aus der einstmals belächelten und verachteten Musik der zwielichtigen Nachtlokale hatte er eine große Form zeitgenössischer Kunst gemacht, angereichert mit klassischer Harmonik und Instrumentation, mit Einflüssen des Jazz, der Barockmusik und der Neuen Musik. Traditionsbewusste „Tangueros“ seiner Heimat bedrohten ihn dafür auf offener Straße, doch die Welt erobert hat der Tango nur dank ihm: Astor Piazzolla.

1921 in Buenos Aires geboren, hatte Piazzolla als Filmkomponist und Kammermusiker „schon eine Weltkarriere hinter sich, als er um 1961 den Nuevo Tango entwickelte und mit seinem Quintett – er selber spielte das Bandoneon – als ‚Missionar des Tango‘ um die Welt zu ziehen begann. Seine ersten Auftritte in Deutschland in den frühen 80er Jahren wurden als Sensation gefeiert,“ so schrieb die Süddeutsche Zeitung in ihrem Nachruf auf den 1992 verstorbenen Komponisten.

Tatsächlich begann die Tango-Revolution, die Piazzolla auslöste, jedoch schon früher, nämlich in Paris unter der Ädige der gestrengen Nadia Boulanger. Die Vorliebe seiner Lehrerin für Barockmusik sich in so manchem Piazzolla-Stück niedergeschlagen, wie beispielsweise in der „Frühlingsfuge“ seiner Vier Jahreszeiten.

Als Piazzolla 1955 nach Argentinien zurückkehrte, schlug mit der Gründung des Octeto Buenos Aires die Geburtsstunde des Nuevo Tango. Der Klang des Ensembles und seine schiere Energie lösten in dem Komponisten eine geradezu hemmungslose Schaffenswut aus: Nahezu 40 Kompositionen und Arrangements schuf er in nur zwei Jahren. Die Entscheidung, mit dem herkömmlichen Tango zu brechen und ihn in eine hochvirtuose Musik für Instrumental-Ensemble zu verwandeln, fiel damals. Denn das Octeto Buenos Aires mit seinen je zwei Bandoneons und Violinen, mit Klavier, Cello, elektrischer Gitarre und Kontrabass setzte an die Stelle des elitären gesungenen Tangos der Vierziger Jahre eine aktuelle Klanglichkeit mit kammermusikalischem Flair.

Dieser neuen Attraktion konnten sich selbst die größten klassischen Musiker unserer Zeit nicht entziehen: Der Geiger Gidon Kremer, der Cellist Mstislav Rostropowitsch und zahllose andere verfielen dem Sog des Nuevo Tango. Im Zuge dieser Rezeption im klassischen Musikbetrieb entstanden auch diverse Bearbeitungen von Piazzolla-Tangos für klassische Kammermusikbesetzungen wie Streichquartett oder Klaviertrio.

Wir hören den Zyklus Las Cuatro Estaciones Porteñas in der Fassung für Klaviertrio, die Piazzollas Cellistenfreund José Bragato angefertigt hat. Den Titel dieser vier Tangos muss man im Deutschen umständlich mit „Die vier Jahreszeiten von Buenos Aires“ übersetzen muss, denn der Ausdruck „porteño“ bezeichnet einfach die Einwohner der argentinischen Hauptstadt und alles, was zu ihrer Stadt gehört.

Piazzolla wollte in diesen vier umfangreichen Tangos zeigen, wie sich die Jahreszeiten auf der Südhalbkugel der Erde darstellen, in seiner Heimat und im Erleben der Porteños und Porteñas. Er schuf damit ein lateinamerikanisches Gegenstück zu Antonio Vivaldis Vier Jahreszeiten.

Die Stücke waren nicht von vornherein als Zyklus geplant: Ausgangspunkt war das Stück Verano porteño (Sommer in Buenos Aires), das bereits 1965 als Schauspielmusik zu dem Theaterstück Melenita de Oro von Alberto Rodríguez Muñoz komponiert wurde. Erst vier Jahre später erweiterte Piazzolla diesen Einzelsatz zum vierteiligen Zyklus, wobei er die Rhythmen des Tango mit Elementen europäischer Barockmusik verband. Otoño Porteño (Herbst in Buenos Aires) kam 1969 hinzu, im folgenden Jahr die beiden übrigen Sätze, Primavera Porteña und Invierno Porteño (Frühling und Winter in Buenos Aires). In dieser Reihenfolge, mit dem Sommer zu Beginn und dem Frühling am Ende, spielen auch unsere Interpreten den Zyklus.

Der argentinische Flötist Maximilano Ribichini hat den Inhalt jedes Stückes einfühlsam beschrieben, so, wie Argentinier die vier Jahreszeiten in ihrer Hauptstadt erleben:

„In den Jahreszeiten gibt es Übergänge von einer wütenden Erregtheit mit sehr virtuosen Passagen zu einer fast erschreckenden Ruhe und Erstarrung. In dieser Hinsicht sind sie deskriptive Musik. Piazzolla wollte den Puls der Großstadt versinnbildlichen. Indem er den Tango verwendete, ließ er das bürgerliche Buenos Aires vor unseren Augen erstehen, den neuen Tango, die Seele von Buenos Aires.

Im Sommer (Verano Porteño, Allegro moderato) herrscht die Leidenschaft, wenn die sengende Hitze den Körper verzehrt und auch der Kalender die Temperatur der Liebe ständig steigen lässt. Selbst der Zement in der Stadt glüht. Mühevoll ist es, durch die Straßen zu gehen, die Siesta belastet von dieser schrecklichen feuchten Hitze. Die Musik lässt die Langsamkeit der Stadt erahnen, die erst aufzuatmen scheint, wenn endlich die Sonne versunken ist. Ein einziges Thema wird durch den ganzen Satz hindurch insistierend wiederholt, nur unterbrochen von Soli der Geige und des Bandoneons (Klaviers). Gegen Ende wird die Langsamkeit fast unerträglich, bis der raschere Schluss Erlösung bringt.

Der Herbst (Otoño porteño, Allegro moderato) ist die Zeit des Abschieds. Die Flüchtigkeit der Leidenschaft weicht der Vergänglichkeit. Die Stadt beginnt, sich in Gelb zu kleiden. Die Noten scheinen Ausschau zu halten, sie sinken sehnsüchtig in die Tiefe.

Im Winter (Invierno Porteño, Lento) herrschen Einsamkeit, Kälte und grauer Alltag. Der Winter ist der kalte Tag, aber auch die Nacht mit ihren heißen Tangorhythmen. Der Satz ist schrecklich melancholisch (Lento mit einer klagenden Melodie in fis-Moll), doch wird dieses Gefühl von Einsamkeit und Kälte unterbrochen von starken rhythmischen Impulsen.

Im Frühling (Primavera Porteña, Fuga, Allegro) begegnen wir unserer ersten Liebe: körperliche Versuchung, ein Imbiss im Grünen, die Verliebten. Die Stadt erwacht nach dem Winter zu neuem Leben, die Bäume schmücken sich mit Grün und die Blumen tauchen die ganze Stadt in einen verführerischen Duft. Dieses Stück entwickelt sich aus einem mitreißenden Fugenthema im synkopischen Rhythmus. Zusammen mit dem Herbst ist es das rhythmischste der Serie.“