Klaviersonate Nr. 2 fis-Moll op. 2
Werkverzeichnisnummer:
Allegro non troppo ma energico
Andante con espressione
Scherzo. Allegro – Trio. Poco più moderato
Finale: Introduzione. Sostenuto – Allegro non troppo e rubato
Als Johannes Brahms im Alter von 20 Jahren zum ersten Mal den Umkreis seiner Heimatstadt Hamburg verließ, war er das Idealbild eines romantischen Genies: ein „schlanker Jüngling mit langem, blonden Haar und einem wahren Johanniskopf, dem Energie und Geist aus den Augen blitzten“, wie Franz Wüllner ihn beschrieb. Neben dem Charisma eines Gesendeten war es die Originalität seiner frühen Klavierwerke, die ihm sofort die Bewunderung bedeutender Musiker eintrug. Zu diesen Werken gehörten die drei Klaviersonaten in C-Dur, fis-Moll und f-Moll. Die fis-Moll-Sonate war die früheste der drei, obwohl sie Brahms später als Opus 2 nach der C-Dur-Sonate veröffentlichte. Er hatte sie bereits 1852 in seiner Heimatstadt vollendet, bevor er sie mit an den Rhein nahm.
Im Sommer 1853 brach er von Mainz aus zu seiner ersten großen Rheinwanderung auf. Zu Fuß ging es bis nach Düsseldorf. Besuche führten den genialen Zwanzigjährigen nach Bonn zu dem Geiger Josef von Wasielewski, in die Villa Deichmann nach Mehlem und nach Neuwied. Von dort unternahm er Ausflüge ins Ahrtal, zu den Lavagruben in Nieder-Mandig und an den Laacher See. Ermuntert durch die vielen musikalischen Begegnungen, fasste er den Entschluss, die Reise mit einem Besuch bei den Schumanns in Düsseldorf zu beenden. Am 30. September klopfte er bei dem berühmten Musikehepaar an die Haustür – ein Schicksalstag der Musikgeschichte. Denn von nun an nahmen beide Schumanns den jungen Brahms unter ihre Fittiche: Robert Schumann verfasste den Artikel Neue Bahnen und verschaffte seinem Schützling das Entrée in die musikalische Welt. Clara Schumann stützte sich voller Begeisterung auf die Klavierwerke, die der junge Mann aus Hamburg mitgebracht hatte. Darunter war auch die fis-Moll-Sonate, die Brahms wenig später als sein Opus 2 veröffentlichen und Clara widmen sollte.
„Das ist wieder einmal einer, der kommt wie eigens von Gott gesandt!“ So beschrieb Clara ihren ersten Eindruck von Brahms. Den gleichen Nimbus des jungen Genies legte Robert Schumann in dem erwähnten Aufsatz Neue Bahnen um den jungen Kollegen: „ein junges Blut, an dessen Wiege Helden und Grazien Wache hielten. Er heißt Johannes Brahms, kam von Hamburg, dort in dunkler Stille schaffend, aber von einem trefflichen und begeistert zutragenden Lehrer gebildet in den schwierigsten Satzungen der Kunst, mir kurz vorher von einem verehrten bekannten Meister empfohlen. Er trug, auch im Äußeren, alle Anzeichen an sich, die uns ankündigten: das ist ein Berufener. Am Klavier sitzend fing er an, wunderbare Regionen zu enthüllen. Wir wurden in immer zauberischere Kreise hineingezogen.“
Mit welchen Stücken Brahms diese Wirkung erzielte, hat Schumann festgehalten: „Es waren Sonaten, mehr verschleierte Sinfonien.– Lieder, deren Poesie man, ohne die Worte zu kennen, verstehen würde, obwohl eine tiefe Gesangmelodie sich durch alle hindurchzieht, – einzelne Klavierstücke, teilweise dämonischer Natur von der anmutigsten Form, – dann Sonaten für Violine und Klavier, – Quartette für Saiteninstrumente, – und jedes so abweichend vom anderen, dass sie jedes verschiedenen Quellen zu entströmen schienen.“
Wie Brahms spielte, dafür interessierte sich naturgemäß Clara Schumann am meisten: „Es ist wirklich rührend, wenn man diesen Menschen am Klavier sieht mit seinem interessanten jugendlichen Gesicht, das sich beim Spielen verklärt, seine schöne Hand, die mit der größten Leichtigkeit die größten Schwierigkeiten besiegt (seine Sachen sind sehr schwer), und dazu nun diese merkwürdigen Kompositionen.“
Die gewaltige fis-Moll-Sonate hat beide Schumanns gleich beim ersten Hören tief bewegt. Die beiden Ecksätze illustrieren Schumanns Bonmot von den „verschleierten Sinfonien“, durch das Andante zieht sich „eine tiefe Gesangsmelodie“, und das Scherzo ist eines jener „Klavierstücke dämonischer Natur“, die Schumann erwähnte. So enthält diese Sonate alle Charakterzüge des frühen Brahms. Um ihre quasi-sinfonischen Klänge zu notieren, genügten dem jungen Komponisten die beiden Systeme der üblichen Klaviernotierung nicht mehr: Er musste zeitweise ein drittes System zu Hilfe nehmen! Nicht zufällig hat er dieses hypervirtuose Stück „Frau Clara Schumann verehrend zugeeignet“ – sicher in der Hoffnung, sie werde die Sonate in ihr Konzertrepertoire aufnehmen. Zugleich verbarg sich hinter dieser Widmung eine Anspielung: Bereits 20 Jahre früher hatte Robert Schumann seiner zukünftigen Frau eine stürmisch bewegte Klaviersonate in fis-Moll gewidmet. An dieses Stück knüpfte der junge Brahms hier an und zitierte es sogar im ersten Satz.
Die Sonate hebt so erregt und zerklüftet an, wie es sich Brahms nur als ganz junger Mann erlaubte. Allegro, nicht zu schnell, aber energisch steht über dem Satz, der quasi mit einem dreimaligen Anlauf beginnt: Auf der ersten Notenseite dominiert das ungestüm los stürmende Hauptthema aus lauter Sechzehnteln in Oktaven. Nach einer Generalpause bietet sich auf der zweiten Notenseite ein völlig anderes Bild: Ein Dreiklangsthema steigt düster feierlich aus der tiefen Lage des Instruments in die Höhe. Es wird später von Fragmenten aus dem Hauptthema überlagert. Nach einem weiteren Einschnitt folgt das Seitenthema, ein schwärmerischer Gesang in Triolen. Damit sind die drei sehr unterschiedlichen Themen des Satzes vorgestellt, der sich in einer klassischen Sonatenform entfaltet. Freilich wiken der Klaviersatz und die Harmonik so rhapsodisch, als habe sich der junge Brahms die h-Moll-Sonate von Franz Liszt zum Vorbild genommen, auch was die ständige Metamorphose der Themen anbelangt. Dem Klaviermagier Liszt stand Brahms als junger Pianist noch keineswegs so kritisch gegenüber wie später als gereifter Meister.
Herzstück der Sonate ist das Andante con espressione in h-Moll. Wie in den langsamen Sätzen der beiden anderen Klaviersonaten hat Brahms hier ein volkstümliches Lied verarbeitet, ein Winterlied des schweizerischen Minnesängers Kraft von Toggenburg:
Mir ist leide,
Dass der Winter beide,
Wald und auch die Heide,
Hat gemachet kahl.
Der Text, nicht die Melodie dieses Minnesangs diente dem Komponisten als Inspirationsquelle für ein „Winterlied ohne Worte“. Anders als in den Klaviersonaten Opus 1 und Opus 5 hat er den Text hier freilich nicht unter die Noten drucken lassen, sondern die Quelle verheimlicht und nur seinem Freund Albert Dietrich verraten. Dennoch kann man die Verse Silbe für Silbe den Noten unterlegen. Der Anfang des Satzes erweckt den Eindruck eines Tenorsolos, das vom Chor beantwortet wird. Die linke Hand stimmt ein Viertonmotiv an: „Mir ist leide“. Die rechte Hand antwortet in Akkorden, die sich aus der Höhe herabsenken, so als ob ein vierstimmiger Chor dem Tenor antwortete. Der Wechselgesang über „Mir ist leide“ wird auf höherer Tonstufe wiederholt, dann scheinen die beiden Partner einander nur noch das „leide – leide“ zuzurufen. Die zweite Hälfte des Themas ist so entworfen, dass man ihr den gesamten Text unterlegen kann. Dabei weicht der Gang der Melodie enharmonisch bis nach d-Moll und Es-Dur aus. Die Stimmung ist winterlich kahl, um nicht zu sagen: trostlos, auch in den vier Variationen, die sich anschließen. In ihnen bleibt der Duktus des Wechselgesangs bestimmend: Melodie in der linken Hand, Antwort im vollen Klavierklang. Dabei werden die Klänge allmählich voller, erreichen einen Grandioso-Höhepunkt in D-Dur, weichen nach H-Dur aus und verschwinden plötzlich. Auf die H-Dur-Variation scheint nämlich die abschließende Allegro-Variation in h-Moll zu folgen. In Wahrheit handelt es sich bereits um das Scherzo der Sonate, ein gespenstisches Staccato-Stück im Sechsachteltakt, dem man deutlich die Verwandtschaft zum Variationenthema anhört. Auch das idyllische Trio, eine zarte Spieldosenmusik in D-Dur, kann seine Beziehung zum Variationenthema nicht verleugnen. Das Trio wird zu großer Emphase gesteigert, bevor bizarre Triller die Wiederholung des Scherzo-Hauptteils ankündigen. Eine Coda krönt in hochromantischer Weise sowohl das Scherzo als auch die Variationen. Auf so geniale Weise hat Brahms hier mithilfe der Variationenform Andante und Scherzo zur Einheit verwoben. Wichtiger als dieses formale Experiment ist freilich die eigenartige Stimmung dieses Doppelsatzes. Es handelt sich um eine winterlich düstere Meditation, die nur vorübergehend von tröstlichen Durklängen aufgehellt wird und am Ende in einen Gespensterreigen mündet.
Im Finale reißen die formalen Experimente nicht ab: Es beginnt mit einer zerklüfteten Einleitung, einem Sostenuto-Gesang in Oktaven, unterbrochen von rhapsodischen Kadenzen. Die Einleitung beginnt harmonisch mehrdeutig, geht dann in tröstliches A-Dur über, bevor mit dem Allegro fis-Moll erreicht wird. Nun tritt das Thema der Einleitung im Charakter verwandelt auf, als klagendes Rondothema im Allegro non troppo e rubato. Das Tempo rubato, der freie Umgang mit der musikalischen Zeit, spielt auch in den Episoden dieses Finales eine Rolle. So wird die Durchführung von feierlichen Akkorden eröffnet, in denen die Zeit stillzustehen scheint. Zitate aus der langsamen Einleitung kehren mehrfach wieder und unterbrechen den Fluss des Allegro. Zum Schluss mündet der Satz in eine Teilwiederholung der Einleitung – als beruhigender Schluss in H-Dur.