Sieben Fantasien, op. 116
Werkverzeichnisnummer:
Heft I
Capriccio d-Moll (Presto energico)
Intermezzo a-Moll (Andante)
Capriccio g-Moll (Allegro passionato)
Heft II
Intermezzo E-Dur (Adagio)
Intermezzo e-Moll (Andante con grazia ed intimissimo sentimento)
Intermezzo E-Dur (Andantino teneramente)
Capriccio d-Moll (Allegro agitato)
Fast verlegen fragte Johannes Brahms seinen Verleger Fritz Simrock im Oktober 1893 nach einem passenden Titel für seine letzten Klavierstücke. Ihm selbst bleibe „wohl nichts übrig als Klavierstücke!“ Die Manuskripte belegen, wie Brahms um die Titel rang: „Clavierstücke“ und „Fantasien“ finden sich mehrmals durchgestrichen. Die Titel auch der einzelnen Stücke muten wie Verlegenheitslösungen an oder wie ein Sich-Verstecken hinter dem Allgemeinen: Intermezzo, Capriccio, Ballade, Romanze und Rhapsodie lösen einander in scheinbar planloser Folge ab.
Der meist gebrauchte Begriff ist zugleich der für den späten Brahms charakteristischste: Intermezzo. Quasi im Vorübergehen, zwischen den Zeilen, ohne Anspruch auf ein allzu Bedeutungsvolles zu erheben, wollte sich der alternde Meister in diesen Stücken aussprechen. Sein Wiener Kritikerfreund Eduard Hanslick hat einmal bemerkt, wie in der späten Kammermusik von Brahms das Scherzo dem Intermezzo weicht. Auch in der Klaviermusik glätten sich (scheinbar) die Wogen, während der Klaviersatz zugleich von tiefster Melancholie gleichsam durchtränkt erscheint.
Monologe eines Einsamen sind es, die Brahms hier zu Papier brachte. Von Bad Ischl aus schrieb er im Sommer 1892 an den Bibliothekar der Musikfreunde in Wien, Eusebius Mandyczewski, er solle ihm doch „so ein 24-36 Querformat für Clavier schicken“, also querformatiges Notenpapier, wie es zu Mozarts Zeit für „Clavierstücke“ verwendet wurde. In jenem Jahr vollendete er die Fantasien Opus 116 und die Intermezzi Opus 117. Im folgenden Sommer schlossen sich die Klavierstücke der Opera 118 und 119 an. Es waren zweimal zehn Stücke, die nach Brahms’ rigidem Auswahlverfahren übrig geblieben waren, denn so manches hat er noch in letzter Sekunde ausgesondert und vernichtet. Die veröffentlichten Stücke sind also nur die Essenz aus zwei (und sicherlich wesentlich) mehr Jahren einer letzten, intensiven Beschäftigung mit jenem Instrument, auf dem er vierzig Jahre zuvor seine Karriere begonnen hatte.
Der mondäne Rahmen für diese Monologe eines Einsamen war das Kaiserbad Ischl im Salzkammergut, seit 1889 die jährliche Sommerfrische des Komponisten: „Geht man gegen zwei Uhr nachmittags in das Café Walter, so sieht man an einem Tische im Freien, Kaffee trinkend und Zigaretten rauchend, einen sehr kräftigen, untersetzten Fünfziger mit blondem Haar, die hoch geröteten Wangen von einem grauen Bart eingerahmt, und mit blitzenden blauen Augen, denen man ansieht, dass in der geistigen Werkstätte dieses Mannes fortwährend gehämmert und geschmiedet und niemals gefeiert wird. In seiner Brust toben manchmal vielleicht wilde Stürme, aber an der Oberfläche sieht man nichts wie ein sich ewig gleich bleibendes Jägersches Normalhemd. Es ist Johannes Brahms, der sich diesmal entschlossen hat, einen Sommer ausschließlich in Ischl zuzubringen. Er ist in größerer Gesellschaft sehr wortkarg und brummt nur zeitweilig eine ironische Bemerkung; im intimen Kreise aber nimmt er lebhaft an der Unterhaltung teil.“
So beschrieb der Wiener Satiriker Daniel Spitzer das Bild des alternden Brahms in Bad Ischl, wie er sich in seiner knorrigen Eigentümlichkeit vom mondänen Treiben um ihn heruhm abhob. Ischl war die letzte Sommerfrische des Komponisten, dort verbrachte er alle seine späten Sommer, genoss in der Frühe die ausgedehnten Spaziergänge, am Nachmittag den Kaffee in besagtem Café Walter, am Abend das Skatspielen mit seinem Freund Johann Strauss.
Zwischen diesen beschaulichen Vergnügungen komponierte Brahms rastlos. Aus seiner „geistigen Werkstätte“ entsprangen in acht Ischler Sommern seine gesamten, wundervollen Spätwerke: das G-Dur-Streichquintett, das Klarinettentrio und –quintett, die späten Klavierstücke, die Vier ernsten Gesänge und die Choralvorspiele, schließlich auch die beiden Klarinettensonaten des Opus 120. Alle diese Werke eint der Ton leiser oder auch tiefer Melancholie: „Es ist ein leiser Mollakkord, den ich hinüber sende, und auch Ihnen klingt es hoffentlich nicht lustig: ich habe für den Sommer in Ischl gemietet. Was ich dort suche und wünsche, wissen Sie.“ So schrieb Brahms 1889 aus Ischl an seinen Berner Freund Joseph Viktor Widmann, den er in den drei Sommern zuvor am Thuner See in der Schweiz regelmäßig besucht hatte.
Das Opus 116, komponiert im Sommer 1892, gab Brahms in zwei Heften heraus: Nr. 1 bis 3 gehören durch die Tonarten d-Moll, a-Moll und g-Moll zusammen, Nr. 4 bis 7 kreisen um die Tonarten E-Dur und e-Moll. Capriccio nannte er die drei schnellen Stücke der Reihe, Intermezzo die langsamen, für die er sehr differenzierte Überschriften wählte.
Der Zyklus beginnt wahrhaft kapriziös: mit einem Presto energico in geradezu missmutigem d-Moll, aus lauter Hemiolen im kompakten akkordischen Satz zusammengefügt. Umso zarter kommt das zweite Stück daher, eine wehmütig um die Terz kreisende ungarische Weise in a-Moll, die variiert wird. Der reißende Strom, in den uns das dritte Stück in g-Moll hineinstürzt, weitet sich im Mittelteil unversehens zur ruhigen, spiegelnden Klangfläche eines Bergsees.
Im vierten Stück feiert die Brahmssche Kunst der bloßen Andeutung, der unterdrückten Passion, wahre Triumphe. Alles beschränkt sich auf zarte Vorhalte im Bass, die nach oben weisen, und sanft abfallende Gesten in der Oberstimme, die darauf antworten. Nichts wird ausgesprochen, alles nur angedeutet. Wie ein schmerzvoll zuckender, verhaltener Tanz in e-Moll wirkt das fünfte Stück, Andante con grazia ed intimissimo sentimento. „Mit Grazie und aller intimstem Gefühl“ ist der Sechsachteltakt hier in lauter Synkopen und Hemiolen aufgelöst, die Harmonie in ständige Vorhalte, die Melodie in ein einziges Zögern und Stocken. Nr. 6 ist ein noch zarteres Andantino, dessen sanfte E-Dur-Melodie so sehr von Vorhalten und Antizipationen überlagert wird, dass man schon an die Klaviermusik des frühen Schönberg denkt. Ein wild aufbrausendes Allegro agitato krönt effektvoll den Zyklus.