Tonstück für acht Bläser, op. 60
Werkverzeichnisnummer:
Gemächlich – Bewegt – Im ersten Zeitmaß
Dass eine bedeutende Komponistin des 20. Jahrhunderts aus Oppenheim stammte und in ihrer Heimatstadt über Jahrzehnte wirkte, wurde von der Musikwelt lange Zeit ignoriert. Die Reger-Schülerin Johanna Senfter war noch Jahrzehnte nach ihrem Tod 1961 allenfalls Spezialisten bekannt, bis Christiane Maier 1993 ihre Mainzer Dissertation über die Komponistin vorlegte. Die Musikwissenschaftlerin hat seitdem zusammen mit diversen Kollegen zahlreiche Werke Senfters posthum im Mainzer Schott-Verlag veröffentlicht, darunter auch das Tonstück für acht Bläser von 1930.
Zwei Jahre nach der Dissertation von Christiane Maier drehte Ulrike Westernacher einen Film über Johanna Senfter, den sie in folgender Kurzbiographie zusammenfasste: „Die Komponistin Johanna Senfter (1879-1961) ist heute nahezu unbekannt. Die Tochter aus wohlhabend-großbürgerlichem Hause entwickelte ihr Können schon früh über den standesgemäßen Klavier- und Gesangsunterricht hinaus und begann mit 16 Jahren 1895 das Musikstudium am renommierten Frankfurter Hoch’schen Konservatorium. Erste Kompositionsversuche folgen sowie ein weiterführender Unterricht bei Max Reger, der sie in ihrer stilistischen Eigenständigkeit bestärkte. Jahre reger Kompositions- und Konzerttätigkeit wie die spätere Gründung eines Musikvereins banden sie an die Heimatstadt Oppenheim. Einer größeren Hörerschaft verschloss sich die sehr zurückgezogen arbeitende und publikumsscheue Komponistin, so dass sie nach ihrem Tod 1961 in Vergessenheit geriet.“
Zu den Instrumentalwerken, die beim Schottverlag in den letzten Jahren herausgekommen sind, gehören das Klavierkonzert von 1938, die 4. Symphonie in B-Dur oder das c-Moll-Doppelkonzert für zwei Violinen und Streichorchester. Ähnlich traditionell in der tonalen und formalen Anlage wirken ihre Violinsonaten in A-Dur und g-Moll, op. 26 und 32, ihre Cellosonate in Es, op. 79, oder das Klarinettenquintett in B-Dur, op. 119, ein Spätwerk aus dem Jahre 1950.
Bereits 1934 kam in Karlsruhe ihr Tonstück für acht Bläser zur Uraufführung, ein Idyll in der Tonart E-Dur, ungewöhnlich besetzt mit Flöte, A-Klarinette, vier Hörnern und zwei Fagotten. Das einsätzige Werk ist in Rondoform angelegt: Der Hauptteil mit seiner sanft absinkenden Flötenmelodie kehrt noch zweimal verändert wieder, dazwischen erklingen zwei längere Episoden, deren zweite ein Allegro ist. Der Hauptteil beginnt „gemächlich“. Die vier Hörner und das zweite Fagott müssen ganz leise spielen, um das Solo der Flöte nicht zu überdecken. Ihre schöne Melodie im breit schwingenden Dreiertakt gemahnt an Senfters Lehrer Max Reger, ja sogar an die Musik Anton Bruckners. Die Klarinette greift den Gedanken auf, der dann von allen acht Bläsern in einem quasi-sinfonischen Tutti zu großer Intensität gesteigert wird, bevor der Hauptteil im Pianissimo ausklingt und die Fagotte mit leisen Synkopen Neues ankündigen. Die Klarinette eröffnet mit einem chromatisch aufsteigenden Gesang die erste Episode. Hier wird der Klang zarter: Mal bleiben die vier Holzbläser unter sich, mal spielen nur Flöte und Klarinette ein kurzes Duo. Danach setzen die Hörner wieder mit dem Hauptgedanken in E-Dur ein. Nach einem zweiten seufzenden Duo von Flöte und Klarinette wechselt das Zeitmaß zum bewegten Tempo. In hoher Flötenlage erklingt eine Art Jagdthema, ein munteres Allegro im „galoppierenden“ Rhythmus einer Gigue. Es wandert kraftvoll durch alle Stimmen, macht einem zarteren Seitenthema der Klarinette Platz, kehrt vielstimmig gesteigert zurück, bis plötzlich aus schmetternden Oktaven der Hörner heraus der Hauptgedanke vom Beginn wieder einsetzt (in der Klarinette mit Ausdruck). Noch einmal blüht der Hauptgedanke hymnisch auf, bevor der Satz leise ausklingt. Die ausdrucksvolle Coda hat Johanna Senfter mit besonders vielen Vortragsanweisungen versehen („zögern“, „sehr ruhig“, „mit Ausdruck“, „breiter werden“), um anzudeuten, dass sie ihr Tonstück besonders feierlich ausklingen lassen wollte.