Schwingt freudig euch empor BWV 36c, Cantata zu Ehren eines Dozenten der Leipziger Universität
Werkverzeichnisnummer:
Sopran
Alt
Tenor
Bass
Oboe d´amore
Violine I
Violine II
Viola
Violoncello
Fagott
Kontrabass
Cembalo
Chorus
Recit. – Aria Tenore
Recit. – Aria Basso con Violini
Recit. – Aria Viola d’Amour solo e Soprano
Recit. – Chorus
Wohl keine andere Kantate Bachs liegt in so vielen verschiedenen Fassungen vor wie Schwingt freudig euch empor, jenes jubilierende Stück, das vielen Zuhörern als Adventskantate BWV 36 vertraut sein dürfte. Tatsächlich aber stand am Beginn ihrer langen Geschichte eine Glückwunschkantate für einen in Ehren ergrauten Dozenten der Leipziger Universität – ein Preislied auf die hohe Kunst der Lehrer, die unweigerlich die Liebe ihrer Schüler nach sich zieht, wie der Text eines unbekannten Dichters behauptet. Es war für Bach leicht, aus dieser Metapher eine Kantate über die geistliche Liebe zu formen, die den Gläubigen zu Jesus zieht – wie die Braut zum Bräutigam des Hohen Liedes. So entstand die besagte Adventskantate, vermutlich zum ersten Advent 1726, und zwar in einer Frühfassung, die Bach in den 1730er-Jahren gründlich überarbeitete.
Auch die weltliche Geschichte dieser Kantate ging noch durch mindestens drei Etappen: Wie bereits erwähnt, gastierten Bach und seine zweite Frau Anna Magdalena im Advent 1725 in Anhalt-Köthen bei ihrem früheren Dienstherrn Fürst Leopold. Dessen erste Frau, die Bach abschätzig eine „Amusa“ nannte, war inzwischen verstorben, und die Nachfolgerin, Fürstin Charlotte, entpuppte sich als wesentlich musikalischer. (Nach dem Tod ihres Mannes 1728 ließ sie schleunigst dessen wertvolle Musikinstrumente beschlagnahmen, um zu verhindern, dass Mutter und Bruder des Verstorbenen die Jacobus-Stainer-Geigen und Hoffmann-Celli verschwinden ließen.) Bach konnte Köthen kaum besuchen, ohne der Fürstin mit einer Kantate aufzuwarten, zumal sie am 30. November ihren Geburtstag feierte. Kurzerhand wandelte er die sommerliche Glückwunschkantate für einen Leipziger Dozenten in eine herbstliche Geburtstagskantate für Fürstin Charlotte um („Steigt freudig in die Luft“, BWV 36a). Anna Magdalena, die ehemalige Köthener Hofsängerin, durfte in der wunderbaren Sopranpartie der Kantate glänzen, was ihr im Leipziger Gottesdienst nie erlaubt worden wäre.
1731 kehrte Bach zum Original zurück, um dem neuen Thomasschulrektor Gesner zum Geburtstag zu gratulieren – auch er ein akademischer Lehrer der Universität. 1735 formte der Thomaskantor die Kantate dann nochmals um in einen Glückwunsch zu Ehren des Universitätsrektors Rivinius, nun mit dem neuen Text: „Die Freude reget sich“, BWV 36b. Die Varianten der fünf Fassungen – der beiden geistlichen und der drei weltlichen – zu unterscheiden, ist keine leichte Aufgabe. Selbst die Neue Bachausgabe hat, obwohl sie insgesamt vier Versionen in Partitur publizierte, nicht zu allen Fassungen Aufführungsmaterial hergestellt. Deshalb hat sich auch Ton Koopman in seiner Gesamtaufnahme der Bachkantaten auf die späte geistliche Fassung beschränkt und auf eine Einspielung der weltlichen Fassungen verzichtet. Unsere heutige Aufführung von BWV 36c ist für ihn gewissermaßen eine Premiere.
Lernmotivation alla Bach
Orchester und Sänger eröffnen die Kantate mit dem Anruf „Schwingt freudig euch empor und dringt bis an die Sternen!“ Was sich hier in himmlische Höhen bis zu Gottes Thron erheben soll, sind die Segenswünsche der versammelten Studenten – sie sangen und spielten ja dieses Stück! – für einen in Ehren ergrauten Professor. Zu seinem Geburtstag wurde die Cantata aufgeführt, vielleicht sogar als „Liebesgabe“ eines betuchten, adligen Studenten für den Verehrten, denn aus der Perspektive der lerneifrigen Jugend ist das Werk geschrieben. Dem Eingangschor hat Bach den ganzen Schwung und die Spannkraft der Jugend verliehen: Wie sich gleich zu Beginn die Oboe d’amore vor dem Jubilar verneigt, um sich anschließend mit den Streichern in die Höhe zu schwingen, ist vollkommene Festmusik. Die Singstimmen setzen nacheinander ein, mit einem komponierten Aufschwung in die Höhe, der beim Wort „Sternen“ im Sopran das hohe A erklimmt. Der Satz ist kontrastierend angelegt: Auf den ersten Aufschwung folgt die Warnung: „Doch, haltet ein! Ein Herz darf sich nicht weit entfernen, das Dankbarkeit und Pflicht zu seinem Lehrer zieht.“ Mit andern Worten: In ihrer Festfreude sollen die Studenten nicht über die Stränge schlagen, sondern weiter dankbar bei ihren Studien bleiben. Das „Haltet ein!“ hat Bach plastisch vertont. Noch zweimal folgt auf den festlichen Aufschwung die Bremse des akademischen Gewissens.
Drei Satzpaare aus Rezitativ und Arie folgen auf den Eingangschor. Zuerst ist der Tenor an der Reihe. Er behauptet, dass die Liebe „mit sanften Schritten“ den Studenten zu seinem Lehrer führe. In der Arie geht die Liebe voran, verkörpert durch die „Liebesoboe“. Sie zieht den Tenor, also den singenden Studenten, hinter sich her und zwar mit den „sanften Schritten“ eines Passepied, eines raschen Menuetts. Die enge Verzahnung von Oboe und Singstimme und die ausdrucksvollen Vorhaltsdissonanzen im sanft schwingenden Dreiertakt sind ein vollendetes Sinnbild für den Textinhalt – wobei Bach schon mitgedacht haben dürfte, wie leicht daraus ein Symbol für die Liebe der gläubigen Seele zum Heiland werden konnte.
Die Bassarie ist ein kunstvolles „Happy Birthday“, in dem Bass und Streicher dem Jubilar fast ununterbrochen freudige Ausrufe in D-Dur zurufen. In barocker Sprache liest sich das so: „Der Tag, der dich vordem gebar“, also der Geburtstag, „stellt sich vor uns so heilsam dar als jener, da der Schöpfer spricht: Es werde Licht!“ Da der Professor den Studenten das Licht des Geistes vermittelt, halten sie seinen Geburtstag für so bedeutsam wie den ersten Schöpfungstag, an dem Gott dem Universum das Licht bescherte. Der leicht blasphemische Vergleich deutet darauf hin, dass es sich bei dem Jubilar nicht um einen Theologieprofessor handelte. Spätere Versionen der Arie hat Bach gründlich überarbeitet. Aus dem Anruf „Der Tag“ wurde dabei in der geistlichen Fassung ein „Willkommen“ an das Jesuskind, in der Köthener Fassung der Name der Fürstin: „Charlotte“!
Karl Böhmer