Trio D-Dur, op, 21 für zwei Violinen und Viola
Werkverzeichnisnummer:
Violine I
Violine II
Viola
Allegro giocoso e semplice
Menuetto. Allegro ma non troppo – Trio. Più vivo
Andante
Vivace
Im Juni 2015 jährt sich zum hundertsten Mal der Todestag von Sergej Tanejew, dem bedeutendsten Schüler von Tschaikowsky. Russische Autoren greifen gerne zu Superlativen, wenn sie auf seine Kammermusik zu sprechen kommen. So schrieb etwa V. Belajef 1929 im Cobbett Kammermusikführer: „Seine Kammermusikwerke – auf einer Stufe mit denjenigen der Klassiker Haydn, Mozart und Beethoven oder den Werken seines Zeitgenossen Brahms – werden lange ein Muster reinen Stils und erhabener Kunst bleiben. Den Beweis für ihre Lebenskraft und ihren Wert haben die Jahre seit dem Tode des Komponisten erbracht, in denen sie nichts an Bedeutung eingebüßt, sondern im Gegenteil ständig gewonnen haben. Unter allen russischen Komponisten von Kammermusik gibt es vielleicht nur einen, der mit Tanejew verglichen werden kann: Glasunow.“
Hundert Jahre nach Tanejews Tod kann von einem so wachen Bewusstsein für seine Bedeutung keine Rede mehr sein. Der bedeutendste Schüler Tschaikowskys ist nahezu in Vergessenheit geraten. Zu jedem Kammermusikgenre trug er gewichtige Werke bei: sechs Streichquartette, zwei Streichquintette (je eines mit zwei Bratschen und zwei Celli), drei Streichtrios sowie je ein Trio, Quartett und Quintett mit Klavier. In der Generation von Mahler und Strauss, zu der Tanejew gehörte, steht dieses Œuvre nahezu einzig da, vergleichbar nur mit Max Reger. Im Gegensatz zur changierenden Chromatik und pastosen Polyphonie seines deutschen Kollegen blieb Tanejew jedoch stets ein treuer Schüler Tschaikowskys und ein dezidiert russischer Komponist: leidenschaftlich im Ausdruck, melodisch inspiriert durch Volksmusik und Oper, in der Form klassisch gebändigt, doch in seinen Klangmitteln quasi-symphonisch ausufernd.
1856 geboren, schloss Tanejew sein Studium bei Tschaikowsky am Moskauer Konservatorium schon im Alter von 19 Jahren mit der Goldmedaille ab. Drei Jahre später war er selbst bereits Dozent, ein geachteter Komponist und Musiktheoretiker, der noch zu Tschaikowskys Lebzeiten zum Direktor des Instituts aufstieg. Das Verhältnis des Schülers zu seinem einstigen Lehrer blieb stets eng und herzlich. Tanejew war der erste, dem Tschaikowsky die Partitur seiner Sechsten Sinfonie für ein halb-öffentliches Durchspielen am Klavier anvertraute. In geselliger Runde oder bei gemeinsamen Spaziergängen war man stets zu Scherzen aufgelegt, wie die folgende Anekdote beweist, die ein weiterer enger Freund des Komponisten, Nikolaj Kashkin, überliefert hat. Sie berichtet von einem winterlichen Spaziergang in Maidanowo, Tschaikowskys Landhaus in der Nähe von Klin: „Einmal verbrachte ich die Karwoche in Maidanowo. Noch immer war es Winter, obwohl der Schnee von unten schon ein wenig zu tauen begann und man beim Spazieren oftmals durchs Wasser stapfen musste; mit den Stulpenstiefeln, die wir trugen, war dies allerdings nicht so schlimm … Am Ostermorgen gingen wir zum Frühgottesdienst nach Maidanowo zur Kirche; es war um die Mittagszeit, als Sergej Tanejew eintraf, um sich mit uns zu einem Spaziergang aufzumachen. Pjotr Iljitsch liebte die Bauernkinder sehr, gönnte ihnen manches und verwöhnte sie gar mit allerhand kleinen Gaben, Kleingeld für gewöhnlich. Tanejew und ich wiesen ihn dafür zurecht und sagten, dass dies die Kinder nur verderbe; der Schuldige gestand betrübt ein, dass dies zweifellos wahr sei, machte uns indes wenig Hoffnung, dass er sich bessern würde.“
Von der engen Bindung Tanejews an seinen Lehrer legt auch das erste seiner drei Streichtrios beredtes Zeugnis ab: Auf der letzten Seite des Manuskripts findet sich ein handgeschriebenes Zeugnis Tschaikowskys vom 10. April 1880, in dem er bestätigt, das Manuskript durchgesehen zu haben und vom Können seines Schülers beeindruckt zu sein. Später zollte er Tanejew das Lob, „der größte Meister des Kontrapunkts in Russland zu sein“, und fügte hinzu: „Ich bin mir nicht einmal sicher, ob es im Westen einen größeren gibt.“
Im frühen D-Dur-Trio hat Tanejew seine kontrapunktische Kunst hinter einer heiteren, klassischen Fassade verborgen, die mehr als einmal an Mozart erinnert. Schon durch die Besetzung für zwei Violinen und Viola verwies Tanejew auf den lichten, hellen Klang gewisser Werke der Wiener Klassiker, die auf das Cello verzichten, wie etwa Beethovens Serenade Opus 9 für Flöte, Violine und Viola oder Mozarts Duos für Violine und Viola, KV 423 und 424. Auch im Aufbau und der thematischen Anlage orientierte sich der Russe überdeutlich an den Wiener Klassikern.
Der erste Satz wird seiner Überschrift Allegro giocoso e semplice durch den Mozartischen Duktus des Hauptthemas gerecht – in der Tat ein „heiteres und einfaches Allegro“. Über dem „Trommelbass“ der Viola singt die erste Geige ihr süßes Thema, das natürlich mit einem Triller endet. Erste und zweite Geige steigern sich gegenseitig in neckischen punktierten Rhythmen, bis das Thema über bewegten Läufen der Bratsche majestätisch wieder einsetzt. Tanejew wäre freilich kein Kind des späten 19. Jahrhunderts gewesen, wenn er nicht auch in diesen schlichten Satz chromatische Modulationen eingebracht hätte: Das zweite Thema setzt in F-Dur statt A-Dur ein, ein Haydneskes Spiel mit trottenden Staccato-Vierteln und kleinen Trillern. Erst nach einiger Zeit bringt die Bratsche das Seitenthema endlich in der „korrekten“ Tonart A-Dur, worauf die Exposition mit Mozartischen Triolen und Sechzehnteln schließt. In Durchführung und Reprise hat Tanejew mit kontrapunktischen Finessen nicht gespart, den Satz jedoch mit einer echt Mozartischen Wendung elegant beendet. (Sie stammt vom Ende des ersten Allegro aus dem G-Dur-Klavierkonzert KV 453.)
An zweiter Stelle folgt ein Menuetto, dessen Thema sicher nicht zufällig an das zweite Menuett aus Mozarts Divertimento für Streichtrio KV 563 erinnert. Auch die kunstvolle Verteilung der Motive auf die drei Stimmen zeigt, wie genau Tanejew Mozarts Menuette studiert haben muss, nicht nur im Streichtrio, sondern auch in den Quartetten und Quintetten. Das bärbeißige Trio in d-Moll erinnert dagegen an Haydn, etwa an das „Quintenquartett“ in der gleichen Tonart.
Im Andante hat Tanejew noch einmal Mozart seine Reverenz erwiesen – durch ein ausgesucht schönes A-Dur-Thema im langsamen Dreiertakt, voll sinnlicher Chromatik und Mozartischer Wendungen. Später wird das Thema im traurigen a-Moll wiederholt, davor und danach aber löst sich die erste Geige aus dem Trioklang und stimmt ein wunderschönes Arioso an, getragen von bewegten Sechzehnteln der zweiten Geige. Wenn zum Schluss das A-Dur-Thema noch einmal wiederkehrt, klingen diese nervösen Sechzehntel unterschwellig noch nach.
Den Spaß mit historischen Anspielungen hat Tanejew im Finale auf die Spitze getrieben. Das Rondothema der Geige klingt wie reinster Haydn, inklusive des „Sich-Festrennens“ aller drei Stimmen im Unisono. Plötzlich aber wechselt der Takt und eine Beethovenisch ruppige Polonaise unterbricht den Fluss des geraden Taktes. Wie meisterlich Tanejew im folgenden Rondothema und ruppigen Einschub kontrapunktisch kombiniert hat, hätte wohl kein Wiener Klassiker besser machen können. Das Finale schließt nach einigen trügerischen Generalpausen alla Haydn leise und flink im Pizzicato.