Quartett a-Moll, op. 35 À la memoire de P. Tschaikowsky
Werkverzeichnisnummer:
Moderato – Più mosso (Allegro non troppo)
Thema. Moderato (mit Variationen)
Finale. Andante sostenuto – Allegro moderato
Am 1. November 1893, vier Tage nach der umjubelten Uraufführung seiner
Sechsten Sinfonie trank Pjotr I. Tschaikowsky im Petersburger Restaurant Leitner ein Glas mit nicht abgekochtem Wasser. Schon tags darauf erkrankte er an der Cholera. Am 6. November um 3 Uhr früh starb er. Noch am selben Tag wusste die ganze Stadt davon, und die St. Petersburger Nachrichten berichteten im Leitartikel ihrer nächsten Ausgabe: „In der Stadt kursieren die widersprüchlichsten Gerüchte sowohl hinsichtlich der Ursache von P.I. Tschaikowskys Krankheit als auch seines Todes.” Schon damals munkelte man, der Komponist sei wegen seiner erotischen Beziehungen zu einem Neffen des Zaren durch ein Ehrengericht zum Selbstmord gezwungen worden. Das Gerücht vom Selbstmord erhielt neue Nahrung, als das Begräbnis gegen alle strengen Vorschriften, die für die Bestattung von Opfern der Cholera erlassen worden waren, öffentlich und ohne jede Abschottung der Leiche stattfand. Heute freilich geht die Forschung davon aus, dass der Komponist tatsächlich der Cholera erlegen ist.
Der plötzliche Tod Tschaikowskys unmittelbar nach der Uraufführung seiner Pathétique löste bei den russischen Komponisten Bestürzung aus, besonders bei den Musikern der jungen Generation. In den Jahren ab 1893 schrieben sie in rascher Folge Trauerstücke auf ihren großen Mentor und Lehrmeister, wie etwa der junge Sergej Rachmaninow. Bereits am 20. Januar 1894, keine drei Monate nach Tschaikowskys Tod, erinnerte er der junge Anton Arensky mit der Uraufführung seines a-Moll-Quartetts in Moskau an sein großes Vorbild. Dieses Werk ist als instrumentales Requiem deshalb besonders bewegend, weil der junge Komponist hier Gesänge der russisch-orthodoxen Kirche in die Kammermusik übertragen hat – Trauergesänge zur Erinnerung an den tief verehrten Meister. Um die typischen, dunklen Männerstimmen der russisch-orthodoxen Kirche nachzuahmen, wählte Arensky überdies eine Besetzung, die vom klassischen Streichquartett charakteristisch abweicht: Statt zwei Geigen in der Höhe mit Bratsche und Cello besetzte er zwei Celli in der Tiefe mit einer Geige und Bratsche. Dies verleiht dem a-Moll-Quartett seinen charakteristischen Trauerklang.
Zu Beginn des ersten Satzes glaubt man, in eine russische Kathedrale einzutreten und von Ferne einen Kirchengesang zu vernehmen: Die vier Streicher stimmen mit Dämpfern auf den Saiten einen psalmodierenden Gesang an. Etwas bewegter und ohne Dämpfer wird der Gesang wiederholt, nun mit einer klagenden Gegenstimme der Geige. Plötzlich bricht der Schmerz aus den Trauernden heraus: Wilde Läufe reißen die Trauerstimmung auf. In dieser zerklüfteten Manier endet das erste Thema des Satzes. Das zweite Thema beginnt in C-Dur als tröstliche Erinnerung, getragen vom Kirchengesang als „Cantus firmus“ im Cello. Die Gedanken der Trauernden schweifen in die Vergangenheit zu Momenten des Glücks und der Seligkeit (Idylle über gezupften Cellosaiten), doch dann holt sie die Trauer des Augenblicks wieder ein. Ein Solo des ersten Cellos leitet zur Durchführung über: Immer wieder hört man Bruchstücke der kirchlichen Melodie, unterbrochen von widersprüchlichen Erinnerungen – freudige, traurige, tragische Töne im raschen Wechsel. Nach einem dramatischen Höhepunkt mit Geigentrillern in hoher Lage sinkt die Musik wieder zurück in den Trauergesang des Anfangs – die Reprise des Hauptthemas. Wie zu Beginn folgen die erregten Ausbrüche und das zweite Thema (nun in A-Dur mit dem Cantus firmus in der Bratsche), schließlich die Idylle mit Cellosolo und Pizzicato. Dieses letzte Aufflammen freudiger Erinnerungen weicht am Schluss totaler Resignation: Die zweite Cellostimme sinkt tiefer und tiefer, die Bratsche stimmt einen Klagegesang an, wieder alle die Dämpfer auf die Saiten und von neuem setzt der Kirchengesang ein. Die Gedanken der Trauernden sind wieder in Kirche und beim Grabgesang angekommen.
Als Mittelsatz wählte Arensky nicht zufällig Variationen. Tschaikowsky selbst hatte in seinem a-Moll-Klaviertrio zur Erinnerung an seinen Pianistenfreund Nikolaj Rubinstein einen langen Variationensatz geschrieben, und zwar als Abfolge ganz persönlicher Erinnerungen an den Verstorbenen – quasi eine Biographie in Tönen. Ähnliches versuchte nun auch Arensky in seinem a-Moll-Quartett. Das Thema ist von entwaffnender Schönheit: Es handelt sich um Tschaikowskys Kinderlied Opus 54 Nr. 5 („Als noch ein Kind war Jesus Christ“). Die rührenden Wendungen des Liedes im äolischen Kirchenton heben die Trauer des ersten Satzes auf die Ebene zarter Wehmut. Hier wird die verlorene Unschuld der Kindheit besungen und die Erlösungstat des Heilands. Mit seinen zweimal vier und zweimal acht Takten ist diese Melodie überdies ein ideales Variationenthema – klar gegliedert und leicht zu behalten. Hier die Abfolge der Variationen:
Var. I Un poco più mosso: Kontrapunktische Aufspaltung des Themas;
Var. II Allegro non troppo: Thema im zweiten Cello gegen Triolen in den anderen Stimmen;
Var. III Andantino tranquillo: Thema in E-Dur in der Bratsche, weiche Gegenstimmen der anderen
Var. IV Vivace: Gespenstische Episode mit gezupften Saiten;
Var. V Andante: Thema im zweiten Cello in tiefer Lage, dazu ein weiches Nocturne der anderen Streicher;
Var. VI Allegro con spirito: Fortissimo-Akkordbrechungen im Wechsel mit Piano-Akkorden, dann Liedmelodie im ersten Cello;
Var. VII Andante con moto (con sordino): Liedmleodie in der Geige zu einer sanft wiegenden Begleitung, die Arensky aus Tschaikowskys erste Streichquartett übernahm;
Coda. Moderato: Aus den letzten leisen Tönen des Themas im Flageolett tritt plötzlich wieder der Kirchengesang des ersten Satzes hervor. Man erkennt, dass die gesamten Variationen nur Erinnungen an der Verstorbenen waren. Mit den letzten Tönen verklingt leise die Liedweise.
Das Finale ist deutlich kürzer als die ersten beiden Sätze. Es hebt mit einem weiteren feierlichen Kirchengesang an, einem Ausschnitt aus der Requiem-Liturgie Russlands. Der Verstorbene ist zu Grabe getragen, die Gedanken schweifen zum Himmel. Doch dann tritt kraftvoll und bewegt einer der berühmtesten russischen Volksweisen hervor: jenes „Slava“-Thema, die russische Krönungshymne, die auch Beethoven in seinem dritten „Rasumowsky-Thema“ verarbeitet hat (im Trio des Scherzos). Hier ist sie das Symbol für das russische Volk, in dessen Herzen Tschaikowsky weiterleben wird. Dies hat Arensky in Form einer kraftvollen Doppelfuge ausgedrückt. Sie wird noch einmal kurz von einem Zitat aus dem Requiem-Gesang unterbrochen, mündet aber dann in einen orgiastischen Schluss – die Apotheose des Komponisten Tschaikowsky.