Ibéria (Zwölf neue Impressionen in vier Heften)
Werkverzeichnisnummer:
Nr. 1 Evocation (Anrufung) – Allegretto expressivo
Nr. 2 El Puerto (Der Hafen) – Allegro commodo
Nr. 3 Fête-Dieu à Séville (Fronleichnam in Sevilla) Allegro gracioso – Un peu plus calme – Tempo Primo – Andante
Nr. 4 Rondeña
Nr. 5 Almería
Nr. 6 Triana
Nr. 7 El Albaicín
Nr. 8 El Polo
Nr. 9 Lavapiés
Nr. 10 Málaga
Nr. 11 Jerez
Nr. 12 Eritaña
Cambo-les-Bains in den Pyrenäen, Mai 1909. Der spanische Pianist und Komponist Isaac Albéniz erliegt seinem schweren Nierenleiden – nur wenige Wochen, nachdem ihm die Republik Frankreich ihre höchste Auszeichnung verliehen hat: das Großkreuz der Ehrenlegion. Zwischen seiner Heimat Spanien, seiner Wahlheimat Frankreich und dem umtriebigen London hatte er seine 48 Lebensjahre verbracht. Zur letzten Ruhe bettet man ihn auf dem Montjuïc in Barcelona.
Obwohl Albéniz in Katalonien geboren wurde, zog es ihn zeitlebens in den Süden Spaniens, ins maurisch geprägte Andalusien. Er hat sich selbst als „Mauren“ bezeichnet und die einstigen maurischen Hochburgen wie Cordoba oder Cádiz in zahlreichen Klavierwerken verherrlicht. Viele davon kennt man heute eher in Bearbeitungen für Gitarre, obwohl Albéniz zu den virtuosesten Pianisten seiner Zeit zählte und alle seine Stücke pianistisch vollendet ausführen konnte. Freilich wäre der Ruhm seiner anderen Klavierzyklen außer der Iberia längst verblasst, würden sie nicht auf der ganzen Welt von Gitarristen gespielt werden. Durch seinen frühen Tod nämlich konnte er viele seiner Klavierzyklen nicht mehr selbst herausgeben und im Konzertsaal spielen.
In den Städten und Häfen Andalusiens spielen die Szenen seines berühmtesten Werkes, der Ibéria. 1908/09 erschien dieser Zyklus, auf vier Hefte verteilt, im Pariser Verlag Edition Mutuelle. Deshalb tragen die zwölf Stücke teils spanische, teils französische Titel. Der französische Untertitel der Sammlung lautet: 12 nouvelles „Impressions“ en quatre cahiers, „Zwölf neue Impressionen in vier Heften“. Mit dem Begriff „Impression“ bekannte sich Albéniz zur Klangkunst der Impressionisten Frankreichs. Lorenzo Soulès spielt die drei Stücke des ersten Heftes.
Anrufung (Evocation) heißt das erste Stück, ein Präludium im Stil eines Fandanguillo. Um diese Musik zu verstehen, muss man sich die Volksgesänge und Volkstänze Spaniens ins Gedächtnis rufen, den Polo und die anderen Arten des Fandango, wie sie von dem berühmtesten Volkssänger jener Epoche, Antonio Chacón, mit hoher, durchdringender Tenorstimme vorgetragen wurden – beschwörend, tief melancholisch, mit Ornamenten versehen, die wir für arabisch halten würden. Diesen Gesang hatte Albéniz im Ohr, als er seine mysteriöse und nostalgische „Beschwörung“ zu Beginn der Ibéria komponierte.
Der Hafen (El puerto) führt mitten hinein ins Treiben eines Mittelmeerhafens. Auf seiner Gitarre schlägt ein Hafenarbeiter die munteren Rhythmen eines Polo, darüber stimmt ein anderer die stark verzierte Melodie an. Im Klavier werden gitarristische Klangeffekte nachgeahmt wie das Rasguado, dass Schlagen der Saiten mit allen Fingern außer dem Daumen. Ein zweites Thema wirkt mehr versonnen und träumerisch. In dieser Stimmung schließt dieser heitere Satz.
Fronleichnam in Sevilla (El Corpus en Sevilla – Fête-Dieu à Seville) lautet der Titel des dritten Stücks – eine musikalische Schilderung der Fronleichnamsprozession, die an orgiastischer Tonmalerei nichts zu wünschen übrig lässt: Die Einleitung beginnt in erwartungsvollem Pianissimo, mit abgerissenen Akkorden. Ein Staccato-Thema erklingt, so als ob seine Melodie von vielen Menschen willkürlich vor sich hin gesummt würde. Allmählich strömen immer mehr Gläubige zusammen, der feierliche Zug scheint sich in Bewegung zu setzen, die Musik erreicht orchestrale Klangfülle bis hin zum vierfachen Forte. Das Staccato-Thema untermalt als Kontrapunkt eine Kirchenweise in hoher Lage, einen Cantus firmus. Plötzlich wandert der feierliche Kirchengesang in die mittlere Lage, begleitet von zart bebenden Akkorden. Der Pianist soll das Thema nun „sehr vage, wie von Ferne“ vortragen. Die Gemüter der Gläubigen haben sich beruhigt, ihr Gesang steigt langsam und zart zum Himmel empor. Als dieses feierliche Gebet verklungen ist, kehrt das Staccato-Thema wieder, noch übermütiger als zu Beginn. Es wird immer energischer, wilder, lauter, geht in einen tänzerischen Dreiertakt über, bis die hektische Bewegung plötzlich abreißt. In feierlichen Oktaven setzt wieder der Kirchengesang ein (Andante, dolce, ma sonoroso), nun immer leiser werdend bis zum verklingenden Schluss. So hat Albéniz die eigenartige Spannung zwischen munterem Volksfest und frommer Prozession am Fronleichnamstag in Tönen eingefangen.
Karl Böhmer