Sextett g-Moll, op. 44 | Kammermusikführer - Villa Musica Rheinland-Pfalz

Johanna Senfter

Sextett g-Moll, op. 44

Sextett g-Moll für Flöte, Oboe, Horn und Streichtrio Opus 44

Besetzung:

Werkverzeichnisnummer:

Besetzung

Flöte
Oboe
Horn
Violine
Viola
Violoncello

Satzbezeichnung

Lebhaft
Etwas ruhiger
Erster Zeitmaß
Ziemlich ruhig
Lebhafter
Sehr ruhig
Lebhaft

Erläuterung

Dass eine bedeutende Komponistin des 20. Jahrhunderts aus Oppenheim am Rhein stammte und in ihrer Heimatstadt über Jahrzehnte wirkte, ohne von der großen, weiten Musikwelt wahrgenommen zu werden, zählt zu den erstaunlichen Episoden in der Musikgeschichte unserer Region. Die Reger-Schülerin Johanna Senfter war noch Jahrzehnte nach ihrem Tod 1961 allenfalls Spezialisten bekannt, bis Christiane Maier 1993 ihre Mainzer Magisterarbeit über die Komponistin vorlegte (Untersuchungen zur Biographie und zum Klavierwerk von Johann Senfter, Ginsheim 1993; Magisterarbeit am Musikwissenschaftlichen Institut der Universität Mainz) Seitdem hat Christiana Maier neben diversen Kollegen wie Wolfgang Birtel zahlreiche Werke Senfters posthum im Mainzer Schott-Verlag veröffentlicht.

Zwei Jahre nach Maiers Arbeit drehte Ulrike Westernacher einen Film über Johanna Senfter, den sie mit folgender Kurzbiographie ankündigte: „Die Komponistin Johanna Senfter (1879-1961) ist heute nahezu unbekannt. Die Tochter aus wohlhabend-großbürgerlichem Hause entwickelte ihr Können schon früh über den standesgemäßen Klavier- und Gesangsunterricht hinaus und begann mit 16 Jahren 1895 das Musikstudium am renommierten Frankfurter Hoch’schen Konservatorium. Erste Kompositionsversuche folgen sowie ein weiterführender Unterricht bei Max Reger, der sie in ihrer stilistischen Eigenständigkeit bestärkte. Jahre reger Kompositions- und Konzerttätigkeit wie die spätere Gründung eines Musikvereins banden sie an die Heimatstadt Oppenheim. Einer größeren Hörerschaft verschloss sich die sehr zurückgezogen arbeitende und publikumsscheue Komponistin, so dass sie nach ihrem Tod 1961 in Vergessenheit geriet.“

Zu den Instrumentalwerken, die beim Schottverlag in den letzten Jahren herausgekommen sind, gehören das Klavierkonzert von 1938, die 4. Symphonie in B-Dur und das c-Moll-Doppelkonzert für zwei Violinen und Streichorchester von 1930. Schon diese Titel und Tonarten zeugen vom konservativen Stil der Komponistin, die den Pfaden ihres Lehrers Max Reger stets treu blieb. Dazu passen ihre konservativen, durchweg tonalen Kammermusikwerke wie die Violinsonate in g-Moll von 1923, die Cellosonate in Es-Dur oder das Klarinettenquintett in B-Dur, ein Spätwerk aus dem Jahre 1950.

Aus den frühen Zwanziger Jahren stammt das Sextett g-Moll, op. 44, in der reizvollen Besetzung für Bläsertrio (Flöte, Oboe, Horn) und Streichtrio (Violine, Viola, Violoncello). Die Uraufführung fand 1922 beim Odenwälder Musikfest statt. Erst Jahre später wurde das Werk vom Rundfunk produziert und sowohl 1936 vom Münchner Sender als auch im Jahr darauf vom Stuttgarter Sender ausgestrahlt. Für die letztere Rundfunkaufnahme, die offenbar in Karlsruhe entstand, wurde von Johanna Senfter ein Stimmensatz angefertigt, der nicht unerheblich von ihrer eigenen Partitur abweicht. Als die Villa Musica bei Wolfgang Birtel eine Notenausgabe des Werkes in Auftrag gab, um es im heutigen Konzert aufführen zu können, sah sich der Herausgeber deshalb mit einer komplizierten Quellenlage konfrontiert:

„Editionen der Werke von Johanna Senfter sind nicht unkompliziert: Zwar sind sie im Autograph überliefert, doch sind diese durch einen oft flüchtigen Schreibstil gekennzeichnet. Dynamik, Artikulations- und Phrasierungsbögen werden sehr inkonsequent gebraucht, sowohl innerhalb der Partitur als auch bei den Stimmenabschriften … Die Lage ist beim Sextett opus 44 besonders kompliziert, da zum einen eine Partitur (wahrscheinlich die Urschrift), zum anderen ein Stimmensatz vorliegen, die offensichtlich nicht direkt voneinander abhängig sind: Die Stimmen dürften wohl auf einer anderen als der überlieferten Partitur basieren. Sie unterscheiden sich in einigen Tönen, enharmonischer Schreibweise, Tonlängen, ganzen Passagen, insbesondere aber in einer teils völlig anderen Dynamik, Artikulation und Phrasierung. Da der Stimmensatz aus der Hand der Komponistin offensichtlich gespieltes Material ist und auch für eine Aufführung im Rundfunk verwendet worden ist (dies belegt ein Eintrag am Ende der Hornstimme), habe ich entschieden, den Stimmensatz als Hauptquelle zu nutzen, wobei natürlich auch die Partitur immer wieder zu Rate gezogen wurde.“ (Wolfgang Birtel)

Auf der Basis dieser Edition durch Wolfgang Birtel wird das g-Moll-Sextett von Johanna Senfter in den Konzerten dieses Wochenendes gespielt – wohl zum ersten Mal seit den Dreißiger Jahren. Es handelt sich um gewichtiges, dreisätziges Werk in der spätromantischen Tradition von Senfters Lehrer Max Reger. An das erste Allegro in g-Moll in klassischer Sonatenform schließen sich umfangreiche Variationen über ein langsames Thema in a-Moll an. Darauf folgt ein tänzerisches Finale im Dreiertakt in G-Dur.

Der erste Satz beginnt „lebhaft“ mit dem g-Moll-Thema in der Flöte. Es handelt sich um eine Tanzmelodie im Sechsachteltakt mit dem Schwung eines Siciliano, die sich sofort zum dreigestrichenen A und zum Fortissimo aufschwingt, dann aber von der Oboe in tiefer Lage weitergesponnen wird. Kleine Epiloge der anderen Instrumente führen das Thema zu Ende, das von „durchbrochener Arbeit“ im dichten Sextettsatz gekennzeichnet ist. In der Überleitung dagegen bleiben Horn und Streicher alleine, mit einem sanften B-Dur-Gesang. Die Flöte greift ihn auf (in des-Moll!), bis die Oboe mit Entschiedenheit wieder den Rhythmus des ersten Themas ins Spiel bringt. Nach einer kraftvollen Steigerung klingt dieser Abschnitt leise zögernd aus. Die Taktart wechselt vom Sechsachtel zum Zweiviertel, das Tempo wird „etwas ruhiger“, und das Cello setzt mit dem eigentlichen Seitenthema ein, einer stark chromatischen B-Dur-Melodie aus klagenden Zweierbindungen, ganz zart untermalt von den anderen Stimmen. Im „durchbrochenen Satz“ wird dieses Thema von den anderen Instrumenten übernommen, erst von Flöte und Oboe, dann vom Horn, schließlich von der Geige im Fortissimo. Wieder klingt der Abschnitt leise aus. Danach kehren Taktart, Tempo und Rhythmus des ersten Themas wieder und eröffnen kraftvoll vorantreibend die Durchführung, die fast kämpferisch anmutet, bis eine zarte Idylle der Streicher aus lauter Doppelgriffen die massiven Klänge unterbricht. Das zweite Thema kehrt im Zweivierteltakt wieder, die Streicher setzen die Dämpfer auf, und es entsteht ein berückend schönes Intermezzo, bevor in der Flöte wieder das Hauptthema in g-Moll einsetzt: Die Reprise ist erreicht. In ihr kehren auch das Überleitungsthema und das zweite Thema im Zweiertakt wieder, nun in G-Dur statt B-Dur. Dazwischen bestimmen rasante Steigerungen die Verarbeitung des Hauptthemas. Der Satz schließt mit wuchtigen Akkorden im dreifachen Forte.

Beim langsamen Mittelsatz handelt es sich um Variationen über
ein sehr breit ausgeführtes Thema von 36 Takten, eine Art Romanze in dorischem a-Moll, die einen F-Dur-Mittelteil hat und mit dem wiederholten A-Teil plagal schließt. Da die drei Thementeile lang und die Variationen sehr frei sind, ist die Form für den Hörer anfänglich schwer nachzuvollziehen, zumal die Variationen in verschiedenen Tonarten stehen und den Charakter des Themas jeweils bis zur Unkenntlichkeit verfremden. Zu Beginn wird die Melodie der Romanze von Oboe und Flöte angestimmt, in der ersten Variation dagegen fällt sie Cello und Horn zu. Hier bleibt der Charakter einer sanft fließenden Ballade in a-Moll noch gewahrt. Erst in der zweiten Variation wird das Tempo lebhafter, die Tonart wechselt nach h-Moll. Der fließende Rhythmus wird von Staccato-Triolen und pathetischen Fanfaren-Rhythmen verdrängt. Auf diesen martialischen Abschnitt folgt als dritte Variation ein ganz sanftes, romantisches Hornsolo in fis-Moll zur Begleitung der Streicher. Als vierte Variation hört man einen munteren Marsch des gesamten Ensembles in A-Dur mit einem hohen Solo für die Geige. Nach dem Pianissimo-Schluss dieser Variation setzt ein Scherzo in a-Moll ein, „lebhafter, jedoch nicht zu geschwind“, mit flinken Läufen in allen Stimmen im Sechsachteltakt. Auf diese fünfte Variation folgt als sechste Variation ein Walzer in A-Dur. Er wird von der Geige mit der deutlich erkennbaren Romanzenmelodie vom Anfang eröffnet, von den Bläsern fortgesponnen und in eine rauschende Tanzszene verwandelt, bis am Ende doch wieder die ursprüngliche Romanze in der Oboe einsetzt, nun aber „sehr ruhig“ und in A-Dur statt a-Moll. Nach 299 Takten klingen die umfangreichen Variationen leise aus.

Das Finale gibt sich einfacher und jovialer als die ersten beiden Sätze: Die Oboe eröffnet mit einer simplen Melodie im Dreiertakt einen Reigen unbeschwerter Tanzthemen. Die Tonart ist das freundliche G-Dur, die Klänge wirken lichter und leichter als in den ersten beiden Sätze. Zwar hat Johanna Senfter auch hier nicht mit Regerscher Chromatik und dramatischen Steigerungen gespart, dem Charakter eines „Kehraus“ ist sie im Finale aber treu geblieben.