Etüden in Form von Variationen (Symphonische Etüden) op. 13
Werkverzeichnisnummer:
Thema. Andante
Etüde I. Un poco più vivo
Variation I
Etüde II. Espressivo (Marcato il canto)
Etüde III. Vivace
Etüde IV. –
Etüde V. Scherzando
Variation IV
Etüde VI. Agitato (con gran bravura)
Etüde VII. Allegro molto (sempre brillante)
Variation II
Variation V
Etüde VIII. Sempre marcatissimo
Etüde IX. Presto possibile
Etüde X. Sempre con energia
Etüde XI. Con espressione
Etüde XII. Allegro brillante
In den Jahren um 1830 erlebte die Klavieretüde eine plötzliche und unverhoffte Aufwertung durch die jungen Romantiker. Frédéric Chopin arbeitete zwischen 1828 und 1832 seine zwölf Etüden Opus 10 aus, die ersten romantischen Beispiele eines Genres, das bislang nur der technischen Ertüchtigung angehender Pianisten gedient hatte. Nun aber wurde die Idee der Etüde, ein bestimmtes technisches Problem in einer exemplarischen Übung abzuhandeln, mit romantischem Inhalt gefüllt. Ob Dreiklangsbrechungen oder Triolenetüde, ob halsbrecherische Passagen oder Legato-Studie – jedes einzelne dieser technischen Probleme wurde plötzlich in Klavierpoesie verwandelt. Dabei dienten die Präludien von Bachs Wohltemperirtem Clavier als Vorbild.
Als Robert Schumann daran ging, seinen größten Band von Etüden zu schreiben, hatte er Chopins Opus 10 schon vor sich, ebenso Bachs Präludien. In der Romantisierung des Genres ging er noch einen Schritt über seine Vorbilder hinaus, indem er die Idee der Etüde mit der Form von Variationen verband. Auch darin war ihm Bach Lehrmeister: Wie der Thomaskantor in den „Goldbergvariationen“ die jeweils zweite Variation der Dreiergruppen in eine technische Etüde verwandelt hatte, dabei aber stets auf dem Boden der gleichen Harmoniefolge geblieben war, so nahm sich nun auch Schumann ein einziges Thema zur Grundlage für zwölf Etüden, die zugleich Variationen des Themas waren. Deshalb lautet der Originaltitel von Schumanns Opus 13 Etüden im Form von Variationen. Erst im Untertitel kreierte Schumann jenen Begriff, den die Nachwelt zum eigentlichen Titel des Opus erkoren hat: Symphonische Etüden. „Symphonisch“ meint hier die thematische Arbeit mit dem Thema, aber auch die geheimen Orchesterstimmen, die sich im Klaviersatz verbergen. Deshalb wollte der Komponist das Opus ursprünglich „Variationen von orchestralem Charakter“ nennen, während ein anderer verworfener Titel den ernsten Ausdruck betont hätte: „Pathetische Variationen“. Nach den Worten des französischen Schumannforschers Marcel Beaufils zählen die Symphonischen Etüden zu den „großen Hymnen auf die tränenreichen Freuden der Starken …, eine der höchsten Eingebungen Schumanns“, ein „athletisches Werk“.
Bei der pianistischen „Athletik“ seines Opus 13 dachte Schumann weniger an sein eigenes Klavierspiel als vielmehr an die pianistischen Künste seines damaligen Lebens- und Kunstgefährten Ludwig Schunke, der im Dezember 1833 nach Leipzig gekommen war, freilich bereits im Herbst 1834 an Tuberkulose starb. Von seinem Klavierspiel schrieb Schumann bewundernd: „Ja, ihn spielen zu hören! Wie ein Adler flog er und mit Jupiterblitzen, das Auge sprühend, aber ruhig, jeder Nerv voll Musik.“ Noch eine andere Klavier- und Liebesbeziehung des Jahres 1834 spielte in die Symphonischen Etüden mit hinein: das Verhältnis zu Ernestine von Fricken. Von ihrem Vater, einem reichen Baron aus dem böhmischen Städtchen Asch, war sie zum Klavierstudium nach Leipzig geschickt worden, und zwar zu Friedrich Wieck, dem Lehrer Schumanns und Vater der damals gerade berühmt werdenden Clara Wieck. Die fünfzehnjährige Clara war damals schon in Schumann verliebt und musste nun Ernestine als ältere und reifere Nebenbuhlerin tränenreich hinnehmen. Wenigstens pianistisch konnte die junge Frau aus Böhmen Clara nicht das Wasser reichen, ansonsten aber begeisterte sich Schumann so für Ernestine, dass er schon an Heirat dachte. Als er aber erfuhr, dass sie nur die Adoptivtochter ihres Vaters war und keinerlei Anspruch auf dessen Einkünfte erheben konnte, ließ er sie fallen. Nur eine reiche Heirat wäre für den mittellosen Komponisten in Frage gekommen.
Dem Vater Ernestines, Baron von Fricken, verdankte Schumann nicht nur diverse Einladungen nach Asch, sondern auch das Thema der Symphonischen Etüden. Der Erstdruck weist eigens darauf hin, dass die Melodietöne (nicht die Akkorde) der Einfall eines „Amateurs“ seien. Ob diese Melodie von Baron von Fricken selbst stammte oder ob dieser Schumann nur das Thema eines Freundes geschickt hatte, ist unklar. Jedenfalls ließ sich der Komponist vom melancholischen Zauber dieses cis-Moll-Themas mit seinen fallenden Dreiklängen anstecken. Gleich die erste Variation ist „symphonisch“ empfunden: Aus der Tiefe des Klaviers entsteht eine Art Orchestermarsch, ein kontrapunktisch gestaffeltes, eigenwilliges Gebilde. So entfernt sich auch jede der folgenden Etüden mehr oder weniger weit vom Thema und drückt ihm seinen eigenen Stempel auf. Dabei werden den zwölf gedruckten Variationen heute meistens noch weitere hinzugefügt, nämlich jene fünf Variationen, die Schumann vor der Drucklegung aussortiert hat. Nina Tichman stellt vier dieser Sätze unter dem Titel Variation zwischen die Etüden. Die Variation I spielt sie nach der ersten Etüde, die Variation IV nach der fünften Etüde und zwei weitere Variationen nach der siebten Etüde. In unserem Programm erklingen also insgesamt 16 Variationen bzw. zwölf Etüden und vier Variationen.
„Jede dieser Etüden ist ein eigenständiges Charakterstück von beachtlichem Ausmaß. Vor allem in der kraftvoll-jubilierenden zwölften Variation, einem ausgewachsenen Finalsatz, den er ursprünglich Siegesmarsch überschreiben wollte, erinnert nur noch wenig an den thematischen Ausgangspunkt dieses Zyklus. Brillanz und Polyphonie, Energie und Expressivität sind die bestimmenden Komponenten dieses pianistischen Mammutwerks … Schumann ist überzeugt, dass dieses Werk beim allgemeinen Publikum nicht ankommen wird, und rät Clara von einer öffentlichen Aufführung ab.“ (Martin Demmler) Dennoch war es Clara, die das Opus in einem Klavierabend im Leipziger Gewandhaus aus der Taufe hob. Alle bösen Gedanken an Ernestine von Fricken und die Eifersucht des Jahres 1834 musste sie dabei ausklammern.
Karl Böhmer