Englische Suite Nr. 3 g-Moll, BWV 808 für Klavier
Werkverzeichnisnummer:
Prélude
Allemande
Courante
Sarabande
Gavotte I – Gavotte II ou la Musette
Gigue
Johann Sebastian Bach war ein junger Virtuose von 30 Jahren, als er seine sechs so genannten „Englischen Suiten“ komponierte. Was für den jungen Beethoven in Wien seine frühen Klaviersonaten, das waren diese Suiten für den jungen Bach: Konzertstücke zur Präsentation seiner exorbitanten Virtuosität. Welcher Cembalist in Deutschland hätte seine Suiten jemals mit so langen und schweren Präludien eröffnet, mit wahren Konzertsätzen für Cembalo solo? Welcher Kollege Bachs hätte so dichte Allemanden und so fugenreiche Giguen geschrieben? Wo fände man bei Mattheson, Händel oder Telemann Sarabanden von solchem Pathos, derart überbordend vor Ornamentik und düster-feierlichen Akkorden?
All dies legte Bach in seinen ersten Zyklus von Cembalosuiten hinein. Es waren ausgesprochene Konzertsuiten, mit denen sich der aufstrebende junge Cembalist aus Thüringen bei den größeren Höfen Mitteldeutschlands vorstellte, etwa in Gotha oder in Dresden. Seine cembalistische Feuerprobe bestand Bach 1717 am Dresdner Hof, als man ihn zum Wettstreit mit dem berühmten Pariser Organisten und Cembalisten Louis Marchand einlud. Bekanntlich räumte der Franzose das Feld, noch bevor es zum „Showdown“ gekommen war, nachdem er heimlich eine Kostprobe von Bachs Kunst erhascht hatte. Es ist hoch wahrscheinlich, dass Bach die „Englischen Suiten“ zu diesem Anlass mit nach Dresden nahm – als Beweis seiner cembalistischen Fähigkeiten, aber auch als Beleg seiner kompositorischen Reife, da es ihm gelungen war, im französischen Stil so vollendet zu schreiben wie die Franzosen selbst.
Tatsächlich handelt es sich bei den „Englischen Suiten“ um die französischsten, die Bach jemals geschrieben hat. Abgesehen von den Préludes und mancher Giga im italienischen Stil sind alle Sätze im französischen Stil gehalten. Die Courante etwa erscheint durchweg in der französischen Form des Tanzes im breiten, hemiolischen Dreihalbetakt und nicht als quirlige italienische Corrente, wie sie Bach später in seinen „Französischen Suiten“ bevorzugte. Letztere wirken insgesamt weit weniger französisch als die „Englischen Suiten“, was die populäre Namensgebung der beiden Zyklen ad absurdum führt.
Die „Englischen Suiten“ erhielten ihren Beinamen deshalb, weil Bach sie angeblich „für einen vornehmen Engländer gemacht hat“, wie Johann Nikolaus Forkel in seiner Bachbiographie von 1802 aus unbekannter Quelle berichtete. Prompt übernahm ein Leipziger Verleger diesen Hinweis in die Erstausgabe, die drei Jahre später im Aufwind der Bachrenaissance erschien. Der Titel lautete: Grandes Suites, dites Suites Angloises, also Große Suiten, genannt „Englische Suiten“. Seitdem führen die sechs Werke, die Bach zu seinen Lebzeiten ungedruckt ließ und auch selbst nicht mit einem Titel versah, den populären Beinamen. Kern der Anekdote um den „vornehmen Engländer“ könnte gewesen sein, dass Bach sich in der ersten Suite sehr eng an ein Werk des in England lebenden Cembalovirtuosen Charles Dieupart anlehnte, der aber – natürlich – Franzose war.
Um die „Englischen Suiten“ von den „Französischen“ zu unterscheiden, sollte man eher von „Weimarer Suiten“ sprechen: Sie sind zwischen 1714 und 1717 am Weimarer Hof entstanden, als Gegenstück zu Bachs großen Weimarer Orgelwerken und als Konzertrepertoire für den Cembalisten Bach. Die „Französischen Suiten“ dagegen hat er als Erbauungs- und Übungsstücke für seine zweite Frau Anna Magdalena 1722 in Köthen begonnen und ab 1725 in Leipzig vollendet. In den „Englischen Suiten“ lehnte sich Bach an die Kunst der „guten alten Franzosen“ an, jener französischen Orgel- und Cembalomeister, die er in seiner Jugend bewundert hatte, wie etwa Dieupart, Raison, Grigny, Clérambault oder auch Marchand. In den „Französischen Suiten“ wandelte er dagegen schon auf den Pfaden des galanten Stils und huldigte nebenbei der intimen Rokoko-Kunst des bewunderten François Couperin.
Englische Suite Nr. 3 g-Moll, BWV 808
An a-Moll-Suiten hat Bach insgesamt vier geschrieben: die Partita für Flöte (BWV 1013), die zweite „Englische Suite“ (BWV 807), die in zwei Fassungen überlieferte Cembalosuite BWV 818 bzw. 818a und die dritte Cembalopartita (BWV 827). Die Tonart g-Moll kommt in seinem Suitenschaffen dagegen nur ein einziges Mal vor, wenn man von einer frühen, in der Echtheit ungesicherten Cembalosuite (BWV 822) absieht: in der „Englischen Suite“ Nr. 3. Den ernsten und zugleich brillanten Charakter der Tonart hat Bach in dieser Suite vollendet zum Ausdruck gebracht.
Im Prélude steht die Brillanz im Vordergrund, und zwar in Gestalt eines tänzerischen Allegro, das dem Vorbild Vivaldischer Konzertsätze folgt. Der „Drive“ des Satzes entsteht aus den repetierten Achteln im Dreiertakt, die sich, wie an Trauben hängend, in die Tiefe senken, während sich gleichzeitig Sechzehntelläufe in die Höhe schwingen. Dieses geniale „Doppelthema“ trägt den ganzen Satz, wobei die vollgriffigen Akkorde ebenso orchestral wirken wie die rauschenden Sequenzen nach Vivaldis Vorbild. Nach 32 Takten wird ein knappes Gegenthema eingeführt, das aber sofort von den Achteln des Anfangs verdrängt wird. Der konzertierende Wettstreit zwischen den beiden Themen wirkt hier enger, dichter verzahnt als im a-Moll-Präludium der zweiten Suite. Dennoch erreicht der Satz mit mehr als 200 Takten eine stolze Ausdehnung –beinahe doppelt so lang wie ein normales Vivaldisches Konzertallegro.
In der ausdrucksstarken Allemande ist es ausnahmsweise die linke Hand, die führt. Sie gibt das Thema vor, das die rechte Hand aufgreift. Gemeinsam spinnen sie den Faden der Sechzehntel fort, wobei eine freie Mittelstimme den Klang bereichert.
Die Courante folgt wieder dem französischen Modell dieses Tanzes und wechselt zwischen „style brisé“ und streng zweistimmigen Passagen ab. Dabei bleibt der Rhythmus unberechenbar – kapriziös auf eine sehr französische Weise.
In der Sarabande der g-Moll-Suite hat sich Bach hemmungslos dem Pathos der verminderten Septakkorde hingegeben. Gleich im ersten Takt wird eine Dissonanz eingeführt, die sich erst nach vier Takten nach g-Moll auflöst, nachdem die Melodie in verminderten Septakkorden gleichsam ins Grab hinabgestiegen ist. Darauf antwortet eine in schmerzlichen Akkorden aufsteigende Sequenz, die in einen Halbschluss mündet. Das Spiel mit den verminderten Septakkorden, den auf- und absteigenden Linien wird im zweiten Teil fortgeführt, wobei die Modulation bis nach as-Moll ausweicht. Dieses Höchstmaß an Pathos hat Bach in der verzierten Version noch gesteigert (Les agréments de la même Sarabande). Wieder hat der Interpret die Wahl zwischen einer verschränkten und einer getrennten Wiedergabe.
Als „Galanterien“ folgen zwei Gavotten, die Bachs Meisterschaft in diesem Tanz unter Beweis stellen. Die erste Gavotte in g-Moll wirkt ansteckend vital, dabei ein wenig bärbeißig rustikal, besonders, wenn im zweiten Teil die linke Hand auf dem g hängen bleibt und diesen Bordun auch noch mit Mordenten verziert. Wie man deutlich hören kann, handelt es sich nicht um eine höfische Gavotte, sondern um einen Bauerntanz. Dazu passt die zweite Gavotte in G-Dur, die Bach Musette genannt hat. Damit bezeichneten die französischen Cembalisten Sätze, in denen sie den Klang des Dudelsacks nachahmten, der „Musette“. Dies tat auch Bach in diesem wunderbaren, kleinen Dudelsackstück.
Die Gigue lenkt zur Brillanz und zum Pathos der vorangegangenen Sätze zurück. Ihr wirbelndes Thema wird von der rechten Hand angestimmt und zunächst in einem dreistimmigen Fugato ausgeführt. Den zweiten Teil eröffnet die Umkehrung des Themas, die nun ihrerseits als Thema zu einem dreistimmigen Fugato dient. Erst zwei Takte vor Schluss bringt die linke Hand noch einmal das Thema in der Originalgestalt. Bach hat damit den für ihn verbindlichen Typus von Gigue geschaffen: die zweiteilige Gegenfuge. Allerdings ist sie hier noch nicht streng dreistimmig durchgeführt, wie er es später in seinen „Französischen Suiten“ und den Partiten für Cembalo handhaben sollte.