Englische Suite Nr. 2 a-Moll, BWV 807 für Klavier
Werkverzeichnisnummer:
Prélude
Allemande
Courante
Sarabande
Bourrée I und II
Gigue
Johann Sebastian Bach war ein junger Virtuose von 30 Jahren, als er seine sechs so genannten „Englischen Suiten“ komponierte. Was für den jungen Beethoven in Wien seine frühen Klaviersonaten, das waren diese Suiten für den jungen Bach: Konzertstücke zur Präsentation seiner exorbitanten Virtuosität. Welcher Cembalist in Deutschland hätte seine Suiten jemals mit so langen und schweren Präludien eröffnet, mit wahren Konzertsätzen für Cembalo solo? Welcher Kollege Bachs hätte so dichte Allemanden und so fugenreiche Giguen geschrieben? Wo fände man bei Mattheson, Händel oder Telemann Sarabanden von solchem Pathos, derart überbordend vor Ornamentik und düster-feierlichen Akkorden?
All dies legte Bach in seinen ersten Zyklus von Cembalosuiten hinein. Es waren ausgesprochene Konzertsuiten, mit denen sich der aufstrebende junge Cembalist aus Thüringen bei den größeren Höfen Mitteldeutschlands vorstellte, etwa in Gotha oder in Dresden. Seine cembalistische Feuerprobe bestand Bach 1717 am Dresdner Hof, als man ihn zum Wettstreit mit dem berühmten Pariser Organisten und Cembalisten Louis Marchand einlud. Bekanntlich räumte der Franzose das Feld, noch bevor es zum „Showdown“ gekommen war, nachdem er heimlich eine Kostprobe von Bachs Kunst erhascht hatte. Es ist hoch wahrscheinlich, dass Bach die „Englischen Suiten“ zu diesem Anlass mit nach Dresden nahm – als Beweis seiner cembalistischen Fähigkeiten, aber auch als Beleg seiner kompositorischen Reife, da es ihm gelungen war, im französischen Stil so vollendet zu schreiben wie die Franzosen selbst.
Tatsächlich handelt es sich bei den „Englischen Suiten“ um die französischsten, die Bach jemals geschrieben hat. Abgesehen von den Préludes und mancher Giga im italienischen Stil sind alle Sätze im französischen Stil gehalten. Die Courante etwa erscheint durchweg in der französischen Form des Tanzes im breiten, hemiolischen Dreihalbetakt und nicht als quirlige italienische Corrente, wie sie Bach später in seinen „Französischen Suiten“ bevorzugte. Letztere wirken insgesamt weit weniger französisch als die „Englischen Suiten“, was die populäre Namensgebung der beiden Zyklen ad absurdum führt.
Die „Englischen Suiten“ erhielten ihren Beinamen deshalb, weil Bach sie angeblich „für einen vornehmen Engländer gemacht hat“, wie Johann Nikolaus Forkel in seiner Bachbiographie von 1802 aus unbekannter Quelle berichtete. Prompt übernahm ein Leipziger Verleger diesen Hinweis in die Erstausgabe, die drei Jahre später im Aufwind der Bachrenaissance erschien. Der Titel lautete: Grandes Suites, dites Suites Angloises, also Große Suiten, genannt „Englische Suiten“. Seitdem führen die sechs Werke, die Bach zu seinen Lebzeiten ungedruckt ließ und auch selbst nicht mit einem Titel versah, den populären Beinamen. Kern der Anekdote um den „vornehmen Engländer“ könnte gewesen sein, dass Bach sich in der ersten Suite sehr eng an ein Werk des in England lebenden Cembalovirtuosen Charles Dieupart anlehnte, der aber – natürlich – Franzose war.
Um die „Englischen Suiten“ von den „Französischen“ zu unterscheiden, sollte man eher von „Weimarer Suiten“ sprechen: Sie sind zwischen 1714 und 1717 am Weimarer Hof entstanden, als Gegenstück zu Bachs großen Weimarer Orgelwerken und als Konzertrepertoire für den Cembalisten Bach. Die „Französischen Suiten“ dagegen hat er als Erbauungs- und Übungsstücke für seine zweite Frau Anna Magdalena 1722 in Köthen begonnen und ab 1725 in Leipzig vollendet. In den „Englischen Suiten“ lehnte sich Bach an die Kunst der „guten alten Franzosen“ an, jener französischen Orgel- und Cembalomeister, die er in seiner Jugend bewundert hatte, wie etwa Dieupart, Raison, Grigny, Clérambault oder auch Marchand. In den „Französischen Suiten“ wandelte er dagegen schon auf den Pfaden des galanten Stils und huldigte nebenbei der intimen Rokoko-Kunst des bewunderten François Couperin.
Englische Suite Nr. 2 a-Moll, BWV 807
Wenn Cembalisten der Bachzeit eine Suite mit einem Prélude begannen, spielten sie entweder „non mésuré“, also ohne Takt im Stil freier Improvisation, oder kompakte „Charakterstücke“ von maximal zwei Notenseiten wie die Präludien im Wohltemperirten Clavier. Mit einem solchen traditionellen Präludium eröffnete Bach die erste Englische Suite in A-Dur. An den Beginn der zweiten in a-Moll dagegen stellte er einen Konzertsatz für Cembalo solo von mehr als 160 Takten Länge, ein Virtuosenstück größten Ausmaßes, das sich in Stil und Form an den schnellen Sätzen der Violinkonzerte Antonio Vivaldis orientierte. Deren Aufbau konnte der Weimarer Hoforganist Bach in aller Ruhe studieren, nachdem Prinz Johann Ernst von Sachsen-Weimar 1713 aus den Niederlanden den Notendruck des Opus 3 von Vivaldi mitgebracht hatte, die berühmte Sammlung L’estro armonico. Diese Concerti hat Bach als Konzertmeister der Weimarer Hofkapelle von der ersten Geige aus geleitet und teils für Orgel, teils für Cembalo bearbeitet. Im Prélude der zweiten Englischen Suite hat er daraus die Konsequenz gezogen: Nachdem er originale Vivaldi-Konzerte auf Tasteninstrumente übertragen hatte, schrieb er nun einen eigenen Konzertsatz im Stil Vivaldis für Cembalo solo. Den rhythmischen Elan Vivaldis hat Bach schon im knappen Kopfmotiv des Satzes eingefangen. Daran knüpfen sich virtuose Sechzehntelpassagen in allen Lagen des Instruments, wie in konzentrischen Kreisen immer weiter ausgreifend, doch stets vom Kopfmotiv grundiert. Erst nach 54 Takten kommt es zur a-Moll-Kadenz, worauf ein neues, betont lyrisches Motiv folgt. Gegen diesen „galanten“ Einschub erhebt das Kopfmotiv sofort Einspruch, woraus ein lebhaftes Konzertieren von weiteren 50 Takten entsteht. Die Reprise des ersten Teils rundet das Vorspiel ab. Bachs Idee, den brillanten Passagen eines klassischen Präludiums die Form eines Konzertsatzes zu geben, hatte weitreichende Folgen. Er schuf damit ein völlig neues, großflächig geordnetes Gebilde, das „konzertante Präludium“, wie er es später auch auf seine großen Leipziger Orgelpräludien übertragen sollte.
Nach dem Sechzehntelelan des Präludiums wirkt die Allemande beruhigend auf das Gemüt. Sie entwickelt sich in nobel gemessener Bewegung aus der Oberstimme des ersten Taktes. Diese ausdrucksstarke Sechzehntellinie wird sofort vom Bass aufgegriffen und im Stil einer zweistimmigen Invention kontrapunktisch ausgeführt. Dabei hat Bach den Klang immer wieder zur Drei- und Vierstimmigkeit erweitert. Die Franzosen nannten dies den „style brisé“, den „gebrochenen Stil“ in Anlehnung an die Präludien der Lautenisten, die auf ihrem Instrument nie streng „stimmig“ spielen konnten, sondern eine Stimme in einer anderen weiterführen mussten, je nach Lage. In diesem freieren Satz ist auch die Courante geschrieben, eine typisch französische Ausprägung dieses Tanzes im Dreihalbetakt, mit lang ausgesponnen Achtellinien, Trillern und Hemiolen.
Die Sarabande gehört zu den großartigsten Sätzen dieses Typus bei Bach. Ein majestätisch absinkendes Thema im vollen vierstimmigen Satz mündet gleich in einen Trugschluss. Seine fallende Linie zieht sich in mannigfachen Wandlungen durch den ganzen Satz. Dabei werden die Intervalle immer ausdrucksvoller und „sprechender“. An die schlichte Sarabande mit ihren wenigen Trillern hat Bach eine stark verzierte Variante desselben Satzes angefügt unter dem Titel Les agréments de la même Sarabande („Die Verzierungen derselben Sarabande“). Damit legte er seinen Cembaloschülern, die sich schon in der Weimarer Zeit einfanden, das Musterbeispiel einer ausdrucksstarken „Methode“ vor. So nannte man zu Bachs Zeit die Kunst der Verzierung. Ob die verzierte Version vollständig nach der unverzierten zu spielen ist oder ob man die beiden miteinander verschränken soll, indem man etwa die Verzierungen für die Wiederholung jedes Teils benutzt, hat Bach nicht angegeben. Dies bleibt dem Interpreten überlassen.
Nach vier so ernsten und anspruchsvollen Sätzen schuldete Bach seinen Zuhörern eine Entspannung. Wie in den Cellosuiten folgt in allen „Englischen Suiten“ auf die Sarabande ein Paar so genannter „Galanterien“ – kurze, leichte Modetänze des 18. Jahrhunderts. In der a-Moll-Suite sind es zwei Bourrées, flinke Tänze im Zweihalbetakt, die erste in a-Moll, die zweite in A-Dur, quasi als Trio. Dass Bach der unbestrittene Meister dieses Tanzes war, kann man allein an dem Umstand ablesen, dass eine seiner Bourrées dank Jethro Tull den Weg in die Rockmusik gefunden hat. Auch in der Zweiten „Englischen Suite“ ist ihm eine Melodie von so prickelnder Frische eingefallen, dass man sie nach dem Konzert unwillkürlich vor sich hin pfeift ¬– ein echter Ohrwurm. Zum prickelnden Eindruck des Satzes trägt die simple Begleitung bei, lauter Achtel über dem „Bordun“ von a und e. Diese Andeutung von volksmusikalischen Bordunklängen wird im Trio aufgegriffen: Die A-Dur-Bourrée ist nichts anderes als ein Volkstanz zum Klang der Drehleiher (französisch Vielle).
Mehr Telemannsche Klangspiele wollte Bach seinen Zuhörern nicht gönnen. Die Gigue kehrt zum strengen zweistimmigen Satz und zu den langen, komplizierten Melodielinien des ernsten Bach zurück. Vorbild war hier aber nicht die französische Gigue mit ihren punktierten Rhythmen, sondern die italienische Giga mit ihren fließenden Achteln, wie man sie in Corellis Violinsonaten findet. Seit den Geigenstunden bei seinem Vater Johann Ambrosius war Bach ebenso sehr Geiger wie Cembalist, zudem ein großer Bewunderer Corellis. In dieser Gigue hat er einen Thementypus Corellis aufgegriffen und ihn in ein wirbelndes Stück Cembalomusik verwandelt.