Klavierquartett h-Moll
(vollendet von Vincent d’Indy)
Werkverzeichnisnummer:
Violine
Viola
Violoncello
Klavier
Dans un emportement doloureux. Très animé
Lent et passionné
Guillaume Lekeu dürfte Kammermusikfreunden in Deutschland nahezu unbekannt sein. Als Meisterschüler von César Franck und Vincent d’Indy schuf der Wallone in knapp sechs Jahren zwischen 1887 und 1893 – im Alter von 17 bis 23 Jahren – einige der bedeutendsten Kammermusikwerke des Fin de siècle: die für Ysaÿe geschriebene Violinsonate, eine Cellosonate, je ein Klaviertrio und Klavierquartett sowie mehrere frühe Werke für Streichquartett. Der belgische Musikhistoriker Georges Systermans bezeichnete Lekeu als einen „flammenden Meteor, der einige der bewegendsten und leidenschaftlichsten Seiten Musik geschaffen hat, die man in der Instrumentalmusik kennt“. Sein notorischer Hang zum emotional Aufwühlenden und sein Tod im Alter von kaum 24 Jahren an Typhus trugen dem Belgier im französischen Sprachraum den Beinamen „Rimbaud der Musik“ ein. Hört man sein Klavierquartett, wird man dieses Epitheton bestätigt finden.
Aufführungen der späten Streichquartette Beethovens versetzten den Siebzehnjährigen in solche Euphorie, dass er seine Berufung zum Musiker erkannte. Er verließ seine wallonische Heimat und zog nach Paris, um bei seinem Landsmann Franck zu studieren. Begeistert schrieb er damals: „Beethoven hat uns gezeigt, dass etwas anderes aus dem Streichquartett gemacht werden muss als ein perfektes Werk in regelmäßiger Form wie bei Haydn und Mozart. Er schuf eine zutiefst originelle Konzeption des Quartetts, doch auch ich werde etwas tief Persönliches schaffen.“
Seine unvollendeten Ansätze zu einem großen Streichquartett verraten dieses hehre Ziel ebenso wie die beiden Sätze seines unvollendeten Klavierquartetts in h-Moll. Auch für dieses aufwühlende Werk gelten die Sätze von Systermans: „In dem Versuch, in die Form des Quartetts die ganze überbordende Fülle seiner Einfälle zu zwängen, trieb Lekeu die Romantik des späten Beethoven ins Extrem. Er gab dem Ausdruck seiner Gefühle – Leidenschaft und Qual, Ekstase und Verzweiflung – den Vorzug vor Form- und Stilfragen. Seine bedeutendsten Werke sind Tondichtungen über sein innerstes Gefühlsleben, romantisch bis ins Mark. Seine Melodik wirkt absolut originell; sie bringt die verschiedenen Themen eines Werkes in all ihrer leidenschaftlichen Gedankenschwere immer mit dem Hauptgedanken in Verbindung. Die Klangfülle und die manchmal exzessive Farbigkeit verdienen weit mehr Bewunderung als die Form. Wir dürfen nicht vergessen, dass wir es mit Jugendwerken eines Genies zu tun haben, dessen hitziges Temperamt keine Zeit mehr hatte, sich zu einem reifen Stil zu kristallisieren.“
Sein Klavierquartett hat Lekeu bei seinem Tod 1894 unvollendet hinterlassen. Die beiden beinahe vollendeten Sätze – das erste Allegro in h-Moll und das Adagio in D-Dur – wurden von seinem Lehrer Vincent d’Indy vollendet und 1895 posthum herausgegeben.
Der erste Satz beginnt gleichsam in der Raserei äußerster Verzweiflung: Dans un emportement douloureux hat Lekeu darüber geschrieben: „In schmerzlicher Hemmungslosigkeit“. Aufgewühlte Streicherläufe tragen das wie gemeißelt wirkende Hauptthema des Klaviers. Die Melodietöne dieses mächtigen Klavierthemas bilden das Motto des gesamten Satzes: ein Sextaufschwung h-g in langen Noten, gefolgt von einem aufsteigenden Fünftonmotiv mit Appoggiatur (cis-d-e-h-a) und einer phrygischen Wendung (d-e-fis). Entscheidend sind die ausdruckstarken Intervalle: die klagende kleine Sext, die verminderte Duodezime (Tritonus über Oktav) und die modalen Wendungen hin zum dorischen und phrygischen Kirchenton. Sie verleihen dem Motto seinen verzweifelten Ausdruck und seine persönliche Handschrift. In mannigfachen Verwandlungen kehrt das Motto wieder, meist leise und träumerisch wie schon kurz nach dem Anfang in einem Cellosolo oder in einem idyllischen Klaviersolo. Ein kämpferisches Thema in Triolen und punktierten Rhythmen stellt sich wie ein düsteres Verhängnis dem Mottothema entgegen, während das lyrische Seitenthema nach G-Dur führt und eine Art Walzerepisode eröffnet. Den Widerstreit der drei Themen in einer sehr ausgiebigen Sonatenform hat Lekeu durch die mannigfaltigsten Klangkontraste unterstrichen: hier zartes Con sordino, Pizzicato und Flageolett, dort machtvolles Unisono im Fortissimo mit martellato-Akkorden. Die ständigen dynamischen Schwankungen tragen zum wogenden Gesamtbild ebenso bei wie das Anziehen und Nachlassen im Tempo. Der Satz schließt im dreifachen Forte, mit dem aufs Äußerste zugespitzten Kontrast zwischen Motto- und Schicksalsthema. Das düstere Verhängnis aber scheint zu siegen.
Umso zarter beginnt der zweite Satz, Lent et passionné überschrieben, also Langsam und leidenschaftlich. Die Steigerung zum Leidenschaftlichen vollzieht sich erst allmählich, in einem gewaltigen Bogen. Zu Beginn hören wir nur ein ätherischen Geigensoli ohne jede Begleitung, wie sie für Lekeu typisch sind. Es steht in d-Moll dorisch und im Vierertakt, obwohl der folgende Satz auf einem schwebenden Barcarole-Rhythmus im 9/8-Takt beruht und in D-Dur anhebt. Aus dem dunklen, langsam pulsierenden Mischklang der gedämpften Streicher und des Klaviers (très calme, sehr ruhig) schält sich ein wundervolles Cellosolo heraus – das eigentliche Thema des Satzes, das „sehr schlicht“ zu spielen ist (très simplement). Diese Barcarole wird von Bratsche und Klavier aufgegriffen, schließlich auch von der Geige, bis die Streicher ihre Dämpfer aufheben, die Bewegung erstirbt und ein neuerlicher Ansatz des gemeinsamen Gesangs zu jener leidenschaftlichen Steigerung führt, die man von Beginn an erwartet hat. Freilich flammt dieses Appassionato nur kurz auf, am Ende verliert sich der Satz in leise flirrenden Pianissimo-Klängen.