Klavierquartett (2001) | Kammermusikführer - Villa Musica Rheinland-Pfalz

Peteris Vasks

Klavierquartett (2001)

Klavierquartett (2001) für Violine, Viola, Violoncello und Klavier

Besetzung:

Werkverzeichnisnummer:

Besetzung

Violine
Viola
Violoncello
Klavier

Satzbezeichnung

Preludio. Moderato
Danze. Allegro
Canti drammatici. Andante
Quasi una passacaglia. Allegro
Canto principale. Cantabile
Postludio. Adagio

Erläuterung

Peteris Vasks, geboren 1946 in der lettischen Provinzstadt Aizpute, zählt zu den prominentesten zeitgenössischen Komponisten des Baltikums. Wie Arvo Pärt und andere baltische Musiker suchte er seinen ganz eigenen Weg fern von den Hauptströmen der westlichen Avantgarde und den folkloristischen Klischees der Sowjetmusik. Sein Werdegang wurde wesentlich von seiner Herkunft bestimmt, wie Arnolds Klotins in seinem Artikel über den Komponisten ausführte:

„Als Sohn eines Geistlichen erhielt er seine ersten, bleibenden musikalischen Eindrücke durch Kirchenmusik und durch seine Mutter, die zu Hause viel und gut sang. Im Alter von acht Jahren begann er, das Violinspiel in der örtlichen Musikschule zu erlernen, und unternahm heimlich erste Kompositionsversuche. Ungeachtet des religiösen Milieus der Familie schrieb er 1956 sein erstes Chorlied auf einen rebellischen, revolutionär-demokratischen Text von Janis Rainis.

1959-64 erhielt Vasks Kontrabassunterricht in der Musikfachschule in Riga und arbeitete 1963-66 im Orchester der Nationaloper Lettlands. Die Aufnahme in das Staatliche Konservatorium Lettlands wurde ihm 1964 wegen des väterlichen Berufs verweigert. Diese Erfahrung erzeugte in dem jungen Musiker ein reserviertes Verhalten den offiziellen Kreisen gegenüber; er sah keine Möglichkeit, mit ihnen konform zu gehen. Trotzdem komponierte er weiterhin in verschiedenen Genres (einschließlich eines Opernversuchs), zeigte seine Werke aber den Kompositionslehrern nicht. Das Bewusstsein des Outsiders veranlasste Vasks, einen Weg außerhalb Lettlands zu suchen: 1964-69 studierte er Kontrabass am Staatlichen Konservatorium in Litauen. In Vilnius spielte er 1966-69 Kontrabass im Nationalen Symphonischen Orchester Litauens, danach 1969-70 wieder in Riga im Kammerorchester der Philharmonie Lettlands und 1971-73 im Nationalen Symphonischen Orchester Lettlands. 1973-78 – Vasks hatte bereits eine Familie zu versorgen – studierte er noch Komposition bei Valentins Utkins am Staatlichen Konservatorium Lettlands. Zu dieser Entscheidung hatte ihn der Kontakt mit der polnischen Avantgarde in Vilnius motiviert.

In den Siebziger Jahren erregte Vasks Kammermusik im lettischen Musikleben Aufmerksamkeit, doch auch als ein bekannter Komponist weigerte er sich, offizielle Posten einzunehmen oder Aufträge anzunehmen, die zu einem Kompromiss mit der offiziellen Ideologie geführt hätten. Seine Energie widmete er dem Komponieren, nebenbei verdiente er Geld als Leiter von Volkstanzkapellen sowie durch Kurse für solche Leiter. Er unterrichtete auch musiktheoretische Fächer in den Musikschulen im Rigaer Bezirk. Seit 1989 leitet er eine Kompositionsklasse an der Musikfachschule »Emils Darzins«. Seit den Achtziger Jahren ist Vasks auch international einer der bekanntesten Komponisten Lettlands; er erhält relativ viele Kompositionsaufträge aus dem Ausland, und seine Werke wurden bisher in fast allen europäischen Ländern sowie in den USA und in Kanada gespielt.

Als Vasks debütierte, orientierte er sich stilistisch an den Klassikern des 20. Jahrhunderts. Bartóks Vitalismus und Schostakowitschs intellektualisierte Lyrik verband er mit der neobarocken Form in seiner Partita für Violoncello und Klavier (1974). Doch nie hat sich Vasks dem musikalischen Historismus verschrieben. Er verzichtet zwar nicht auf die semantischen Ausdrucksmodelle der Vergangenheit, aber er macht sie zu seinen eigenen und schließt sie in eine Iyrische Konzeption ein. In dieser Hinsicht ist seine Musik immer die Stimme des Autors.

Den Kreis der semantischen Modelle erweiterte er durch die Verfahren der Klangkomposition, des Impressionismus und sogar der Romantik in den Werken In memoriam für zwei oder vier Klaviere (1977) und Maza nakts muzika [Kleine Nachtmusik] für Klavier (1978), doch nahm in seiner Dramaturgie dann das Prinzip der antiromantischen Montage des Materials zu, Meditatives und Vogelsymbolik … Vasks vermeidet hier die romantischen Naturklischees und schafft ein feines Gleichgewicht zwischen der Wiedergabe der Vogelstimmen durch die Timbres der Instrumente und ihrer musikalischen Überformung und Poetisierung. Vasks folgte dabei dem Beispiel des US-Amerikaners George Crumb. Wichtig war die Aneignung der Minimal Music in Gramata [Das Buch] für Violoncello solo (1978), in Cantabile per archi (1979) und in Balta ainava [Weiße Landschaft] für Klavier (1980).

Ungeachtet der ausgewogenen, ruhigen und oft elegischen Stimmung von Vasks’ Musik ist darin immer der unversöhnliche Gegensatz zwischen negativen Emotionen, die sich mit den dem Menschen feindlichen Kräften assoziieren einerseits und dem zarten lyrischen Ausdruck andererseits akzentuiert. Dieser krasse Gegensatz von zwei Ausdruckssphären läßt stets die Anwesenheit des ethischen Imperativs in Vasks’ Musik fühlen – das ist ihre wichtigste inhaltliche Besonderheit. Es zeigen dies schon die Titel: Vestjums [Botschaft] für Orchester (1982), Cantus ad pacem für Orgel solo (1984), Episodi e canto perpetuo für Klaviertrio (1985), Balsis [Stimmen], Sinfonie für Kammerorchester (1991). In seinem Vokalwerk bevorzugt Vasks das Chorlied. Auch hier dominiert das Epische, so dass fast jedes, auch ein kleines Werk Vasks’, als Fragment eines Epos aufgefasst werden kann.” (Arnolds Klotins, in: Komponisten der Gegenwart)

In den sechs Sätzen seines Klavierquartetts von 2004 hat Peteris Vasks verschiedene Ausdrucksformen der Kammermusik zitiert: im Präludium und in der Passacaglia den Kontrapunkt und die Motorik der barocken Zeit, im Scherzo den Tanz und in den beiden langsamen Sätzen den Gesang.

Das Quartett beginnt mit den leeren Quintklängen des Präludiums (Moderato). Die Violine löst sich aus dieser Erstarrung zuerst, dann Bratsche und Cello in Motiven, die allmählich von Quinten zu Terzen und Sekunden übergehen. Plötzlich heben die Streicher die Dämpfer auf und treten in ein lebhaftes Dialogisieren ein, untereinander und mit dem Klavier. Dabei wird die Musik immer wieder barock kontrapunktisch wie in einem Präludium von Bach.

Der zweite Satz mit dem Titel Tänze (Danze) ist eine Abfolge rascher, volkstümlicher baltischer Tänze, erst im graden Takt, dann als „Zwiefacher“ zwischen Dreier und Zweier wechselnd. Dabei ist der Klang durchweg rustikal, der Rhythmus steigert sich bis ins ungehemmt Raue, die Dynamik bis zum Fortissimo.

Das Andante wird seinem Titel „Dramatische Gesänge“ vollauf gerecht. Zum ersten Mal hört man in den Streichern expressiven Gesang, erneut geprägt von Quinten und Oktaven. Die kleine Sext Es signalisiert von Ferne g-Moll. Der Pianist greift das Thema auf. Es entspinnt sich ein wuchtiger Wechselgesang, der vom Cello mit einer Kadenz unterbrochen wird. Dieses wundervolle expressive Solo reicht der Cellist an den Geiger weiter, bevor der dramatische Wechselgesang aller vier Spieler wieder einsetzt.

Der vierte Satz lehnt sich frei an das barocke Modell der Passacaglia an, eine Variation über einen absteigenden Bass in immer wilder werdenden Rhythmen. Tremolo, Doppelgriffe und alle Arten aufgeregter Bewegung bestimmen diesen Satz bis hin zum orgiastischen Ende im dreifachen Forte.

Den Aufregungen dieses Satzes antwortet im fünften ein leise klagender Gesang aller Instrumente, den Vasks Canto principale genannt, „ursprünglicher Gesang“ – im Gegensatz zu den „dramatischen Gesängen“ des dritten Satzes. Damit wird die Brücke zum Finale gebaut: Eine hohe leise Violinmelodie eröffnet das expressive, träumerisch verschwebende Postludium (Adagio).

Karl Böhmer