Kol Nidrei, op. 47 (Adagio nach jüdischen Melodien d-Moll)
Werkverzeichnisnummer:
Cello
Orchester / Klavier
Die Idee, jüdische Gebetsgesänge in instrumentale Formen zu kleiden und dadurch in „Gebete ohne Worte“ zu verwandeln, wurde nicht erst im 20. Jahrhundert geboren. Jahrzehnte vor Ernest Bloch und Ödön Partos kam ausgerechnet der Enkel eines evangelischen Superintendenten in Köln auf diesen Gedanken: Max Bruch. Auf seiner Suche nach pittoresken Titeln und unverbrauchten Quellen für seine Musik stieß der Kölner Romantiker 1880 auf die Gebetsgesänge der jüdischen Gemeinden im Rheinland. So entstand Kol Nidrei für Cello und Orchester bzw. Klavier – ein Adagio „nach hebräischen Melodien“, wie er es nannte. Den Titel und das Hauptthema entlehnte Bruch jenem Gebet, das vor dem Abendgebet des Versöhnungstages, des Jom Kippur, gesungen wird. Auf den klagenden Beginn des Cellosolos in d-Moll folgt die Verdichtung zum Gebetsthema des Kol Nidre und eine typisch romantische Steigerung, die auf dem Höhepunkt nach D-Dur umschlägt und in einem Morendo-Schluss versöhnlich ausklingt. Damit erfüllte Bruch alle Erwartungen an ein wirkungsvolles Konzertstück auf romantisch geheimnisvoller Grundlage.
Rasch avancierte sein Opus 47 zum Erfolgsstück – gleichsam in einem Atemzug mit seinem Opus 46, der Violinfantasie „unter freier Benutzung schottischer Volksmelodien“. Dieses Ausschöpfen volksmusikalischer Quellen war ganz im Sinne seines Verlegers Simrock, der von Brahms und Dvorak her wusste, wie viel Geld mit Ungarischen bzw. Slawischen Tänzen zu verdienen war. Nun sollte der Kölner Bruch für ihn die britischen Inseln musikalisch „abgrasen“ und Inspiration aus dem unendlichen Fundus der jüdischen Gesänge schöpfen.
Den Erfolg von Kol Nidrei versuchte Bruch in zwei weiteren langsamen Sätzen für Cello und Orchester zu wiederholen, seinen Opera 55 und 56. Doch weder die Canzone noch das Adagio nach keltischen Melodien mit seiner etwas zweifelhaften Vermengung irischer, englischer und walisischer Weisen konnten den Erfolg des Opus 47 wiederholen. Dies lag sicher an der suggestiven Kraft der jüdischen Gebetsgesänge selbst, die Bruch hier aufgriff.
Übrigens ahnte der Meister am Ende seines Lebens, dass sein Name bald nur noch mit einem Werk in Verbindung gebracht werden würde: mit „dem“ Violinkonzert. In einem Gespräch 1907 meinte der fast Siebzigjährige über sich im Vergleich zu Johannes Brahms: „In nur 50 Jahren wird sein Glanz als der des überragendsten Komponisten aller Zeiten hell erstrahlen, während man sich meiner hauptsächlich nur wegen meines g-Moll Violinkonzertes erinnern wird.“ Neidlos erkannte er Brahms als den tieferen Geist an, rechtfertigte aber seinen eigenen Hang zum Populären durch wirtschaftliche Zwänge: „Ich musste mit meinen Kompositionen Geld verdienen. Ich war deshalb gezwungen, gefällige und leicht verständliche Werke zu schreiben … Ich schrieb immer gute Musik, aber solche, die leicht abzusetzen war.“ Dazu gehörte auch das Kol Nidrei, op. 47.