Variationen und Fuge über ein Thema von Händel, op. 24 für Klavier
Werkverzeichnisnummer:
Thema. Aria – Variationen – Fuga
Variationen für eine liebe Freundin schrieb Brahms mit seinem üblichen Understatement auf die Originalhandschrift seiner Händelvariationen. Im September 1861 hatte er seine längsten und virtuosesten Variationen für Klavier vollendet und schickte sie sofort an seine „liebe Freundin“ Clara Schumann mit der Bitte, das Werk in ihr Konzertrepertoire aufzunehmen: „Ich habe Dir Variationen zu Deinem Geburtstag gemacht, die Du noch immer nicht gehört hast und die Du schon längst hättest einüben sollen für Deine Konzerte.“ Dem Willen des Freundes tat Clara umgehend Genüge und studierte unter großen Mühen die Variationen ein. Umso ärgerlicher erschien ihr die Reaktion des Komponisten nach der Uraufführung am 7. Dezember 1861: „Ich spielte sie unter Todesangst, aber dennoch glücklich und mit viel Beifall. Johannes aber kränkte mich tief durch die Gleichgültigkeit, die er mir in Bezug darauf bewies. Er äußerte, er könne die Variationen nun nicht mehr hören, es sei ihm überhaupt schrecklich, etwas von sich hören zu müssen, untätig dabei zu sitzen. Einestheils begriff ich dies Empfinden recht gut, anderntheils aber ist es doch sehr hart, wenn man alle seine Kräfte an ein Werk setzt, und vom Componisten selbst kein freundliches Wort dafür hat.“ Wenig später nahm Brahms die Variationen in sein eigenes Konzertrepertoire auf und spielte sie mit großem Erfolg, besonders bei seinem Debüt in Wien 1862.
Das Thema der Variationen fand Brahms in Händels zweiter Sammlung von Cembalosuiten, die 1733 vom Verleger Walsh publiziert wurde, vermutlich ohne Zutun des Komponisten. Denn die weitaus meisten dieser Suiten wurden relativ willkürlich aus früheren Händelstücken zusammengestellt. In der B-Dur-Suite hatte Walsh eine ganz frühe Sonata von Händel mit einem viel späteren Menuett kombiniert und in die Mitte die von Brahms benutzte Aria con Variazioni gestellt. Sie findet sich bereits in zahlreichen Abschriften aus Händels ersten englischen Jahren, es war also der junge Händel, der die Londoner mit diesem Thema begeisterte – kaum älter als der achtundzwanzigjährige Brahms, der es aufgriff. Brahms hat das Thema tongetreu von Händel übernommen, also mit allen barocken Verzierungen. Während aber der Barockmeister auf seine Aria nur fünf Variationen folgen ließ, sind es bei Brahms 25 Variationen und eine abschließende Fuge.
In der autographen Handschrift kann man sehr schön sehen, was ihn an Händels Thema reizen musste: die absolute Symmetrie von zweimal acht Takten und das simple harmonische Schema. Das Thema passt in Brahms’ Handschrift genau auf zwei Klaviersysteme, ebenso fast jede der Variationen, so dass schon im Schriftbild Händels Aria omnipräsent erscheint. Fast alle Variationen beschränken sich auf zweimal acht Takte mit Wiederholungen im harmonischen Schema B-Dur-F-Dur-B-Dur. Nur die b-Moll-Variationen weichen aus. Sie bringen weiche, singende Linien und Chromatik ins Spiel, bevor sich Brahms von neuem in den „motorischen“ Duktus barocker Rhythmen gestürzt hat. Auch der Rhythmus hat ihn an Händels Aria fasziniert.
Die 25 Variationen sind klar in zwei Hälften gegliedert: Die ersten vier Variationen greifen den barocken Rhythmus auf und steigern ihn allmählich bis zu den Staccato-Sechzehnteln der vierten Variation (Vivace). Darauf folgt das erste b-Moll-Intermezzo aus weichen, expressiven Legato-Linien (V und VI). Die siebte Variation setzt gleichsam mit Bläserklängen ein, ein entschieden rhythmisches Molto vivace, das sich in die nächste Variation fortsetzt. Danach alternieren weich-gesangliche Variationen mit rhythmisch kraftvollen Quasi-Etüden. Wir hören chromatisch absteigende Legato-Linien in IX, Staccato-Triolen in X, weiche Klänge in XI und XII. Die dreizehnte Variation schließt diesen Abschnitt ab – mit großer, expressiver Geste in b-Moll.
Die vierzehnte Variation eröffnet die zweite Hälfte des Zyklus’ mit Oktavsprüngen in der linken und Laufkaskaden in der rechten Hand. Danach folgt eine Bravour-Variation auf die nächste bis zum Schluss. Herauszuheben sind Nr. XIX als sehr schnelle, barocke Gigue, Nr. XX mit Chromatik in beiden Händen, Nr. XXII als Marsch und die finalen, irrwitzig virtuosen Variationen.
Nach dem mächtigen Schluss der 25. Variation im dreifachen Forte setzt das Thema der Fuge ein. Es ist eine freie Variante des Händelthemas in lauter gebundenen Sechzehnteln. Was Brahms aus diesem Fugenthema hervorzauberte, wie er orchestrale Klangfülle mit pianistischer Brillanz und kontrapunktischer Verdichtung paarte, das hat die Zeitgenossen nachhaltig beeindruckt, besonders im Vortrag des Komponisten. Bei seinem ersten eigenen Konzert in Wien am 29. November 1862 im alten Saal des Wiener Musikvereins erntete er mit dem furiosen Vortrag der Händel-Variationen stürmischen Beifall: „Es imponierte gewaltig, dass der die Schlussfuge in einem so atemberaubenden Tempo nahm, dass selbst die Musiker vom Fach kaum dem Verlauf der Komposition zu folgen vermochten“ (Siegfried Kross). Seinen Eltern schickte Brahms nach diesem Konzert ein eher bescheidenes Resümee: „Mein Konzert ist ganz trefflich abgelaufen, viel schöner, als ich hoffte. Ich habe als Klavierspieler außerordentlich gefallen. Jede Nummer hatte den reichsten Beifall, ich glaube, es war ordentlich Enthusiasmus im Saal.“ Dieser Enthusiasmus des Publikums ist den Händelvariationen bis heute treu geblieben.