Klaviersonate Gezi Park 2, op. 52 | Kammermusikführer - Villa Musica Rheinland-Pfalz

Fazil Say

Klaviersonate Gezi Park 2, op. 52

Klaviersonate Gezi Park 2, op. 52

Besetzung:

Werkverzeichnisnummer:

Satzbezeichnung

1. Allegro maestoso: Von den Nächten des Widerstands auf den Straßen von Istanbul
2. Moderato tranquillo: Von der Stille der Gaswolke
3. Andante tranquillo: Von der Ermordung des unschuldigen Kindes Berkin Elvan
4. Maestoso, appassionato, molto espressivo: Die Hoffnung bleibt immer in unserem Herzen.

Erläuterung

FAZIL SAY

Klaviersonate Gezi Park 2

Seine Klaviersonate mit dem Titel Gezi Park 2 hat FazılSay am 9. Mai 2014 im Wiener Konzerthaus zur Uraufführung gebracht. Sie war ein unmittelbarer Reflex auf die Ereignisse in Istanbul vom Mai und Juni des Vorjahres, die Zusammenstöße zwischen aufgebrachten Bürgern und der Polizei. In 19 Minuten hoch dramatischer Musik schilderte der Komponist und Pianist die Ereignisse so packend, dass daraus ein Zeit- und Seelengemälde seiner Heimatstadt wurde. Im Vorwort der Notenausgabe beim Schott-Verlag schilderte FazılSay den Inhalt des Werkes folgendermaßen:

„Diese Sonate für Klavier solo ist der zweite Teil eines dreietiligen Zyklus, welcher die Ereignisse im Gezi-Park nacherzählt. Das erste Stück (Konzert für zwei Klaviere und Orchester) berichtet von den Tagen Ende Mai 2013 und behandelt hauptsächlich den überraschenden Angriff der Polizei auf eine Gruppe Menschen, die versuchten, den Gezi-Park und seine Grünflächen zu beschützen.

Das zweite Stück geht näher auf die Tage vom 31. Mai und den 1. und 2. Juni ein, als die vielen Konflikte und harter Widerstand den Eindruck eines Bürgerkriegs erweckten. Im Gezi-Park und auf dem Tksim Platz befanden sich Millionen von Menschen, als zwischen der unter dem Befehl von Ministerpräsident Erdogan stehenden Polizei und den Menschen die Gewalt eskalierte. Die durch die Luft hallenden Parolen und der Geist jener Tage werden in Gezi Park 2 kompositorisch reflektiert.“

Die vier Sätze tragen eindeutige Überschriften:

Allegro maestoso: Von den Nächten des Widerstands auf den Straßen von Istanbul. Der erste Satz stürzt den Zuhörer mitten hinein ins Geschehen jener Junitage 2013 in Istanbul. Über einem klopfenden Bass setzen erst mächtige Akkorde ein, dann eine wild drängende Bewegung in Sechzehnteln. Sofort spürt man, wie sich die aufgebrachte Menge vereint und in stampfendem Protest durch den Park marschiert. Sogar das Skandieren ihrer Parolen hat FazılSay in die Musik einkomponiert: „Das ist nur der Anfang, der Kampf geht weiter“ auf Türkisch. Plötzlich fährt der Wasserwerfer der Polizei dazwischen, doch die Menge ist noch nicht zerstreut. Der Widerstand wächst und gipfelt in rauschenden Klangwogen. Danach ebbt die Erregung ab, und das Klopfen vom Anfang kehrt wieder. Endlich murmeln die verstörten Menschen den Satz: „Taksim ist überall, überall ist Widerstand.“ Der Satz endet im unwirklichen Klang einer Spieluhr. Unmittelbar folgt der zweite Satz.

Moderato tranquillo: Von der Stille der Gaswolke. Über einem Ostinato der linken Hand entfaltet sich dieser Satz als große Elegie, erst leise, „fragend, suchend“, dann immer mächtiger anwachsend, bis die Musik plötzlich in unwirkliche Klopfgeräusche und ferne, gespenstische Akkorde übergeht. Noch einmal erhebt die Elegie ihre Stimme, bis sie im leisen Ostinato des Anfangs ausklingt. Wieder folgt der nächste Satz attacca.

Andante tranquillo: Von der Ermordung des unschuldigen Kindes Berkin Elvan. Mit einem sanft schlendernden, kindlich reinen Andante-Thema hebt der Satz an, doch es ist die trügerische Ruge eines Kindes auf dem Weg zum Bäckerladen, während in weiter Ferne bedrohliche Klänge die Gefahr ankündigen. „Der vierzehnjährige Berkin Elvan, ein unschuldiges Kind, wurde von der Polizei auf dem Weg zum Brotkaufen erschossen. Berkin lag 269 Tage im Koma und starb am 14. März 2014. Er wog nur 16 Kilo, als er starb. An seiner Beerdigung in Istanbul nahmen mehr als 500.000 Menschen teil“ (FazılSay). Allmählich wird das unschuldige Klavierthema immer lauter, die düsteren Akkorde kommen immer näher, Spannung baut sich auf. Ein Allegro setzt ein, so als liefe der Junge davon, die Musik wird hektisch, bis plötzlich die Sirenen der Polizei aufkreischen und der Schuss ertönt. Der Junge verliert das Bewusstsein, seine Melodie verliert sich im Nichts. Der Ostinato aus dem zweiten Satz kündigt den Übergang zum Finale an.

Maestoso, appassionato, molto espressivo: Die Hoffnung bleibt immer in unserem Herzen. Im Fortissimo und majestätischen Oktaven der rechten Hand setzt das hymnische Thema des Finales ein, ein Hohelied auf die Hoffnung, die nie stirbt. Sein Duktus wird immer intensiver, weicht aber auch meditativen Einschüben. Schließlich reißt ein Vivace aggressivo alles in einem Strudel der Gewalt mit sich fort.

Karl Böhmer