Klavierquintett Op. 72b
Werkverzeichnisnummer:
I Enlightenment (Tranquillo)
II Struggle against Darkness (Pesante)
III Believing in Live (Tem¬po I)
IV Plane Tree (Largo espressivo)
Die Geschichte der „bewegten Villa“ (Yürüyen Köşk) kennt in der Türkei jedes Kind. Das Haus und die Platane, dem es im Jahr 1930 ausweichen musste, stehen noch heute in der Hafenstadt Yalova am Marmara-Meer. Dort begann 1929 eine der schönsten Geschichten aus dem Leben des Erneuerers der Türkei, Mustafa Kemal Atatürk. Der große Staatsmann hatte bereits 1927 einige Zeit auf dem heutigen „Nationalbauernhof“ in Yalova verbracht, doch erst im August 1929 fiel ihm vom Boot aus eine alte, sehr große Platane ins Auge, die sich auf seinem Gelände befand. Er ließ am Ufer anlegen und ruhte sich eine Zeit lang unter dem alten Baum aus. Danach befahl er, im Schatten des Baumes eine Villa aus Holz zu bauen, die bereits einen Monat später vollendet war. Als er im Folgejahr wiederkehrte, hatten sich freilich Äste der Platane so bedrohlich auf das Dach der Villa gelegt, dass die Gärtner um Erlaubnis baten, den Baum beschneiden zu dürfen. Stattdessen ordnete Atatürk an, die Villa zu versetzen, und zwar auf Eisenbahnschienen, die aus Istanbul beigeschafft wurden. Das Medienecho auf diese Meisterleistung der Ingenieurskunst war groß: Die Schienen wurden unter das Gebäude geführt, die Fundamente ausgegraben. Am 8. August 1930 setzte sich die Villa in Bewegung, in Anwesenheit des Auftraggebers, und legte im Lauf von zwei Tagen insgesamt fünf Meter Richtung Osten zurück. Dort fand sie ihren neuen Platz und dort steht sie noch heute, einträchtig neben dem Baum, dessen Äste nicht geopfert wurden. Seither ist sie als die „bewegte Villa“ bekannt und ein Symbol für den Geist der Erneuerung, den Atatürk verkörperte. Denn mit der Versetzung der Villa setzte er gleich mehrere Zeichen: für eine vernachlässigte Region, für die Ingenieurskunst seines modernen Staates und für die Achtung gegenüber der Natur.
Auch im Klavierquintett von Say dient die Villa Yürüyen Köşk als Symbol für die neue, aufgeklärte Türkei des Atatürk. Die vier Teile, die nahtlos ineinander übergehen, entwerfen eine einzige große Szene, deren Verlauf sich aus den Überschriften der Sätze, aber auch einzelner Abschnitte ergibt:
Teil I, Tranquillo, Aufklärung: Der Staatsgründer ruht sich im Schatten seiner Platane aus, die Vögel singen, eine ruhige, reine Musik verkörpert den Geist des Neuen, den er seinem Land hat einhauchen können. Doch die „old memories“, die „alten Erinnerungen“ ein, stören die Ruge des Staatsmanns. Diese Geister der Vergangenheit, symbolisiert durch ein oirentalisch klingendes zweites Thema, kann Atatürk hier noch bannen. „Calming down“, „Sich beruhigend“ klingt der Satz aus. Plötzlich setzt der wild erregte zweite Satz ein.
Teil II, Pesante, Kampf gegen die Dunkelheit: Eine einzige Eruption wilder Rhythmen und Klänge im 7/8-Takt symbolisiert den Kampf der modernen Türkei gegen „dunkle Ideologien“ („fight against dark ideologies“). Die sich ständig steigernde Erregung gipfelt in einem „schmerzvollen“ Höhepunkt. Danach ebbt die Erregung ab und eine simple, ostinate Bewegung im Klavier aus lauter Tritonus-Sprüngen leitet die kurze Coda des Satzes ein: Cantabile e malinconico („singend und melancholisch“). Es ist der Übergang zum dritten Satz.
Teil III, Tempo I, Glaube an das Leben: Der Satz beginnt dort, wo der erste aufgehört hat: In der Idylle der Villa. Wieder keinem alte Erinnerungen auf an den langen Weg, den Atatürk und seine Mitstreiter zurücklegen mussten. Ein ruhiges Thema im Klavier dolce espressivo e sempre legato wird allmählich gesteigert. Es wächst und wird immer emotionaler (emotional and growing), schließlich leidenschaftlich (appassionata), bis der Höhepunkt erreicht ist, der große Hymnus auf das Leben.
Teil IV, Largo espressivo, Platane: Im Finale wird endlich die Geschichte der Platane von Yalova erzählt, beginnend mit einem süßen, singenden Klaviersolo (dolce, cantabile). Plötzlich setzt sich nebenan der Tross des „bewegten Hauses“ in Bewegung. In einer riesigen Steigerung über fast 100 Takte hinweg legt das Haus seine Wegstrecke zurück, bis es zur Ruhe kommt und mit ihm sein Bewohner Atatürk. Das Finale klingt in den schönen Tönen des ersten Satzes aus: im Einklang zwischen Platane und Villa, Natur und Mensch.
Am 8. August 1930 begann die Versetzungsarbeiten. Atatürk war selbst dabei. So wurde das Gebäude im verlauf von zwei Tagen insgesamt fünf Meter nach Osten versetzt. Seither ist die Villa als Bewegte Villa (Yürüyen Köşk) bekannt. Ziel der Aktion war zum einen die Bekanntheit der Gegend zu steigern, den wissenschaftlichen Fortschritt in der Region zu Fördern und zum Naturschutz zu sensibilisieren.
Nach Atatürks Tod sind der noch heute stehende Baum und die Villa in Staatseigentum übergegangen und wird seit 2006 als Museum genutzt.
Das Gebäude selbst ist Viereckig aufgestellt und zweistöckig. Im Saal mit Seeblick befand sich das Grammophon des Hauses. 50 westliche des Hauses wurde ein Siemens Generator in einer Hütte aufgestellt, um das Haus mit 110 Volt Strom zu versorgen.