Kantate zum Sonntag Epiphanias (6.1.1725)
Werkverzeichnisnummer: 5123
1. Choralchor “Liebster Immanuel”
2. Rezitativ Alt “Die Himmelssüßigkeit”
3. Arie Tenor “Auch die harte Kreuzesreise”
4. Rezitativ Bass “Kein Höllenfeind will mich verschlingen”
5. Arie Bass “Lass, o Welt, mich aus Verachtung”
6. Choral “Drum fahret immer hin”
“121 Neue himmelssüße Jesuslieder, darinnen der hochteure süße Kraftname Jesu über 700mal zu finden” – so nannte der Rudolstädter Kanzler Ahasverus Fritsch seine Choralsammlung von 1670, in der sein Lied “Liebster Immanuel, Herzog der Frommen” zum ersten Mal gedruckt wurde. 28 Jahre später erschien es im Darmstädter Gesangbuch mit der schönen h-Moll-Melodie, die auch Bach übernahm (“Geistreiches Gesang-Buch, vormahls in Halle gedruckt / Nun aber allhier mit Noten der unbekandten Melodien und 123. Liedern vermehret” … Darmstadt 1698). Es ist dort im Kapitel “Jesus-Gesänge” zu finden (auf S. 146f. mit dem Textanfang “Schönster Immanuel Hertzog der frommen”), also keinem Sonn- oder Festtag des Kirchenjahres zugeordnet. Im barocken Überschwang der sechs Strophen und der Hingabe an den Heiland ist dieses Lied typisch für die Rudolstädter Liederdichtung um 1680. Bach lernte den Choral vermutlich in der Gothaer “Psalmodia Sacra” von 1715 kenne, In jedem Fall brachte er ihn aus seiner Heimat Thüringen mit nach Leipzig, wo das Lied praktisch unbekannt war. Nicht einmal im Dresdner Gesangbuch war es zu finden. Die Gläubigen in der Leipziger Thomaskirche dürften also einigermaßen gestaunt haben, als sie ausgerechnet an Epiphanias 1725 im Textbuch zur Kantate folgende Choralstrophe lasen:
Liebster Immanuel, Herzog der Frommen,
Du, meiner Seelen Heil, komm, komm nur bald!
Du hast mir, höchster Schatz, mein Herz genommen,
So ganz vor Liebe brennt und nach dir wallt.
Nichts kann auf Erden mir liebers werden,
Als wenn ich meinen Jesum stets behalt.
Dieser Text ist eine einzige „Hertz-Vergnügung“ über den Namen Jesu ohne erkennbaren Bezug zum Fest der Erscheinung des Herrn. Im Vorjahr hatte Bach den Leipzigern noch eine regelrechte „Dreikönigskantate“ beschert (BWV 65). Nun beschränkte sich der Bezug zum 6. Januar auf die heilsame Wirkung des „Kraftnamens“ Jesu, des Immanuel, des „Gott mit uns“. Bach muss dieses Lied besonders geliebt haben, um es in Leipzig in einem so eigenwilligen Zusammenhang aufzuführen.
Noch etwas anderes dürfte die Leipziger bei der Uraufführung der Kantate irritiert haben: Sie steht in h-Moll statt in festlichem D-Dur und beginnt im weichen Klang von Traversflöten und Oboen statt im Glanz festlicher Blechbläser. Der Eingangschor ist ganz von Bachs inniger Jesusliebe durchdrungen und wird vom Tanzrhythmus einer Sarabande geprägt. Anno 1715 zu Gotha hatte man sich noch abfällig darüber geäußert, dass „das vortreffliche Lied Liebster Immanuel / Hertzog der Frommen etc. nach seiner Melodie eine formale Sarabande ist“ und daher eine „allzuweltliche Composition“. Für Bach machte gerade dieser Tanzrhythmus den Reiz des Chorals aus. Den schweren Dreivierteltakt der Sarabande verwandelte er in einen triolisch schwingenden Neunachteltakt. Im Chor verzichtete er auf allen Kontrapunkt, fügte in allen Stimmen Triller hinzu und ließ auch die Instrumente ununterbrochen in zärtlichster Jesusminne schwelgen. Getragen vom sanften Schwung „wallender“ Triolen, wiederholen die Instrumente wie die Chorsänger unablässig das absteigende Kopfmotiv zu dem Text “Liebster Immanuel”. Ständig wird dieser Anruf von Stimme zu Stimme weitergereicht, von den hohen Traversflöten und Geigen über die Oboi d’amore und die mittleren Chorstimmen bis hin zu den Bässen. Dabei erreicht Bachs Orchestersatz oft die reale Sechsstimmigkeit, während die Chorstimmen auffallend schlicht und gesanglich geführt sind. Die Choralmelodie von 1698 hat Bach subtil verändert, sowohl in einzelnen Tönen, als auch im harmonischen Verlauf, und zwar erst beim Niederschreiben des Eingangschors. Die letzte Zeile (“Als wenn ich meinen Jesum stets behalt”) inspirierte ihn durch ihren absteigenden Duktus zu einer Wiederaufnahme der ersten Zeile in den unteren Chorstimmen. Eine Besonderheit in der Orchestrierung dieses Satzes liegt im paarweisen Dialog der beiden Traversflöten mit den Oboi d’Amore und den Geigen. Nur in ganz wenigen seiner Eingangschöre ohne Trompeten hat Bach die Traversflöten paarweise eingesetzt (außer in den Passionen nur in BWV 30, 107, 117, 198).
Für die vier Mittelstrophen des Chorals besorgte sich Bach Umdichtungen eines namentlich nicht bekannten Leipziger Theologen. Im ersten Rezitativ beschwört der Alt die „Himmelssüßigkeit“, die allen Gläubigen allein durch Jesu Namen schon auf Erden zuteil werde. Die erste Arie erzählt dagegen vom harten Kreuz, das der Gläubige zu tragen habe:
Auch die harte Kreuzesreise
Und der Tränen bitt’re Speise
Schreckt mich nicht.
Statt die Unerschrockenheit des Gläubigen zu betonen, schilderte Bach ausführlich die „harte Kreuzesreise“, und zwar durch zwei Oboi d’amore, deren Stimmen sich schon im Vorspiel ständig kreuzen. Zu diesen “Stimmkreuzungen” kommen die drei Kreuze der Tonart fis-Moll hinzu sowie die vielen zusätzlichen Kreuze der chromatisch absteigenden Melodie, deren Hauptmotiv auch optisch das Kreuz Christi nachzeichnet. So hat Bach schon das Eingangsritornell mit Anspielungen auf das Kreuz geradezu überhäuft und deshalb ausdrücklich ein sehr langsames Tempo vorgeschrieben (“Lente” in der Stimme der Oboe I). Für den Tenor wird die musikalische Reise durch diesen chromatischen Bläsersatz wahrhaft zu einer „Kreuzesreise“, nämlich zur Prüfung seiner Sattelfestigkeit in Intonation und Rhythmus. Der Tenor, der diese wundervolle Arie aus der Taufe hob, war derselbe Leipziger Student, der drei Monate später die Zweitfassung der Johannespassion als Evangelist und Ariensolist bewältigen musste. In der Tenorarie von BWV 123 durfte er auch einzelne Textworte plastisch hervorheben wie etwa die „bittre Speise“ oder das „schreckt mich nicht“. Im Nachspiel des ersten Teils wandert das Kreuzmotiv erstmals in den Bass, während die Oboen dazu gleichsam leuchtende Haltetöne spielen. Der Sinn dieser Stelle erschließt sich erst nach dem stürmischen Mittelteil:
Wenn die Ungewitter toben,
Sendet Jesus mir von oben
Heil und Licht.
Erst tobt der Tenor in einer einzigen riesigen Passage aus stürmischen Zweiunddreißigsteln durch die Ungewitter, während die Oboen ständig das Kopfmotiv dieses Allegro wiederholen. Dann legt sich der Sturm, und aus der Höhe erscheint plötzlich das Licht Jesu. Es sind jene lange gehaltenen Oboentöne, die schon den ersten Teil der Arie beschlossen hatten. Wieder liegt das Kreuzmotiv im Continuo, dazu singt der Tenor sein tröstliches “Sendet Jesus mir von oben Heil und Licht”. Am Ende des Da Capo versteht man den Sinn dieser Stelle schließlich auch ohne Worte – es ist die Andeutung von himmlischer Hoffnung aus der Höhe. Den Tempowechsel in dieser Arie hat Bach eigenhändig in die Stimmenkopien eingetragen, die sein Leipziger Hauptkopist Johann Andreas Kuhnau anfertigte: Der Hauptteil muss “Lente” gespielt werden, also sehr langsam, der Mittelteil Un poco allegro, „ein wenig lebhaft“.
Das zweite Paar aus Rezitativ und Arie ist dem Bass anvertraut. Bach hat diese beiden Sätze seinem Hauptbassisten jener Jahre auf den Leib geschrieben: dem damals dreißigjährigen Studenten Johann Christoph Samuel Lispius, der 1727 als Hofsänger nach Merseburg ging. Als erster Solist in Bachs Kreuzstabkantate und “Ich habe genug”, im Osteroratorium und der Matthäuspassion hat er die Welt der Bässe um etliche Bachsche Glanzstücke bereichert. Dazu gehört auch diese Arie:
Lass, o Welt, mich aus Verachtung
In betrübter Einsamkeit.
Zwar wird das Wort „betrübt“ durch Molleintrübungen angemessen dunkel eingefärbt, dennoch schildert diese Arie den Rückzug des Gläubigen aus der Welt eher als vergnügte denn als betrübte Einsamkeit: Die Traversflöte geht mit einem munteren Marsch in D-Dur voran und glänzt in glitzernden Dreiklängen, gestützt vom Staccato des Basso continuo. Der Bass singt seinen keineswegs verzweifelten Eremitengesang in ständigem Wechsel zwischen Bass- und Baritonlage – eine sängerische Herausforderung. Verständlich wird der Kontrast zwischen den gleißenden D-Dur-Passagen der Flöte und dem einsamen Gesang des Basses erst aus dem Originaltext der Choralstrophe. Es ist der Gegensatz zwischen der verächtlichen Welt und dem einsamen Gläubigen, der von allen verlassen wurde:
Ob mich auch will die Welt verfolgen, hassen,
Und bin dazu veracht bei Jedermann,
Von meinen Freunden auch gäntzlich verlassen,
Nimmt Jesus meiner doch sich hertzlich an.
Und stärckt mich Müden, spricht: sey zufrieden.
Ich bin dein bester Freund, so helfen kann.
Im Mittelteil hat Bachs unbekannter Textdichter dann doch noch eine Anspielung auf das Fest der Fleischwerdung Christi eingebaut, um danach wieder zu den Tönen inniger Jesusliebe zurückzukehren. Die Arie gipfelt in den hinreißenden melodischen Wendungen des Basses auf die letzte Zeile “(Jesus) bleibet bei mir allezeit”:
Jesus, der ins Fleisch gekommen
Und mein Opfer angenommen,
Bleibet bei mir allezeit.
Der Schlusschoral kehrt zur Tonart h-Moll und zur Sarabanden-Melodie zurück:
Drum fahrt nur immer hin, ihr Eitelkeiten,
Du, Jesu, du bist mein, und ich bin dein.
Ich will mich von der Welt zu dir bereiten,
Du sollst in meinem Herz und Munde sein.
Mein ganzes Leben, sei dir ergeben,
Bis man mich einstens legt ins Grab hinein.
Es ist quasi Bach selbst, der in den letzten beiden Choralzeilen spricht, darum hat er sie ausnahmsweise im Piano wiederholen lassen. Übrigens hat er von den 42 Tönen der ursprünglichen Choralmelodie allein 12 geändert und den Bass in fast jedem Takt neu geschrieben. Erst durch Bachs Überarbeitung ist aus der schlichten Darmstädter h-Moll-Sarabande von 1698 ein inniges Bekenntnis zur Jesusliebe geworden.
Karl Böhmer