Sacrae Cantiones II (1603)
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Als Don Carlo Gesualdo, Fürst von Venosa, 1603 mit zwei Bänden geistlicher Gesänge an die Öffentlichkeit trat, dürfte mancher Zeitgenosse überrascht reagiert haben. Bis dato hatte der Fürst lediglich als Meister des weltlichen Madrigals von sich Reden gemacht – von Madrigalen in einer so exzessiv chromatischen Manier, wie sie zwar für Neapel nicht untypisch war, von Gesualdo aber auf die Spitze getrieben wurde. Nun aber publizierte er geistliche Gesänge an die Jungfrau Maria und die Heiligen, komponiert im Kirchenstil eines Palestrina. War der Fürst von Venosa gezähmt?
Dass einer der mächtigsten Adligen im spanischen Vizekönigreich Neapel überhaupt als Komponist Anerkennung fand, war im Musikleben um 1600 ein Sonderfall. Nicht dass es seinen Standesgenossen an künstlerischem Ehrgeiz gefehlt hätte: Jahrelang ließ sich Guglielmo Gonzaga, der Herzog von Mantua, seine Kompositionen von Palestrina durchsehen und heimste dafür das öffentliche Lob des römischen Meisters ein. Gesualdo aber beeindruckte seine Kollegen tief und nachhaltig. Er zählte zu den Vorreitern jener neuen, ausdrucksvollen Form musikalischer Deklamation, die Monteverdi einige Jahre später „seconda prattica“, „zweite“ oder „neue Praxis“, nennen sollte.
Entscheidend dafür waren seine Jahre in Ferrara 1594 bis 1596: Am Musenhof der Familie d’Este heiratete Gesualdo im Februar 1594 seine zweite Gemahlin
Eleonora, eine Nichte des regierenden Herzogs. Dort lernte er die seinerzeit berühmten Musiker der Hofkapelle kennen, Exponenten des neuesten Stils im italienischen Madrigal. Von Ferrara aus reiste er nach Venedig, Padua, Rom und Florenz, diskutierte mit Musikerkollegen, komponierte und lauschte den Werken der anderen.
In all diesen Begegnungen fiel Don Carlo durch seinen „affetto napoletanissimo“ auf: In der Unmäßigkeit seiner Abneigungen wie Vorlieben erschien er den Norditalienern typisch neapolitanisch. Er redete nie, es sei denn, das Thema kam auf die Jagd oder die Musik. Dann ergoss sich ein Schwall von Worten über den Zuhörer. In Venedig schimpfte er offen auf Giovanni Gabrieli und die venezianische Schule, in Rom irritierte er Emilio de’ Cavalieri durch seine an Wahnsinn grenzende Leidenschaft für die Musik, und auch in Florenz sah man den Sonderling mit gemischten Gefühlen.
All dies spiegelte sich auch in seinen Werken wider: in den seltsamen Akkord-Verbindungen, der ungehemmten Chromatik und den Abstürzen ins Bodenlose, die seit 1595 zum Abzeichen seines Stils wurden. Der damals publizierte dritte Band von Madrigalen und das gleich im nächsten Jahr folgende vierte Madrigalbuch zeigten aller Welt, wie sehr die Musik Ferraras bei Don Carlo Spuren hinterlassen hatte. In diesen revolutionären Werken löste er sich erklärtermaßen vom „leichten Stil“ seiner ersten beiden Madrigalbücher und beschritt einen Weg ohne Umkehr. Bis zum Ende seines Lebens sollte er sich immer tiefer in die Abgründe einer selbstzerstörerischen Musik verstricken. In ihrer irritierenden Chromatik spiegeln sich die unentrinnbaren Traumata seiner Seele wider. Davon zeugen die späten Madrigale der Bücher V und VI sowie die Responsorien von 1611.
Auf diesem Weg immer tiefer ins Leid waren die Motetten von 1603 gleichsam ein Rettungsanker, an den sich der alternde Fürst klammerte – ebenso wie an die inbrünstige Verehrung seines Onkels Carlo Borromeo, des Bruders seiner Mutter, der schon wenige Jahre später heilig gesprochen werden sollte. Die religiöse Inbrunst, die in Don Carlo um 1603 aufkeimte, hatte verstörende Ursachen in seiner Biographie. Für den italienischen Musikhistoriker Lorenzo Bianchoni verraten sie Gesualdos „paradoxe Identifikation mit dem religiösen Thema. Diese Vertonungen von Antiphonen, Responsorien und paraliturgischen Texten ergehen sich in Reue, Selbstzerfleischung und den flehentlichen Bitten eines Sünders an die Jungfrau Maria und den Heiligen Franziskus.“ Auch der amerikanische Gesualdo-Spezialist Glenn Watkins hielt die Motetten für zutiefst persönlich geprägte Bitten eines Sünders um Fürsprache: „Geist und Körper des Komponisten hatten zu bröckeln begonnen, seine Sterblichkeit wurde bedrohlich spürbar, und man hat ein unzweideutiges Gefühl von Bestandsaufnahme. Allein sieben Texte der beiden Motettenbände von 1603 sprechen vom Sünder und noch einmal doppelt so viele sind der Sorge und dem flehentlichen Gebet gewidmet. Als Ganzes gesehen, kann man sie Gebete um Fürsprache nennen, wobei allein neun an die Jungfrau Maria und je eines an den Hl. Franziskus und an alle Heiligen gerichtet sind.“
Warum aber gewann gerade in dieser Zeit die religiöse Inbrunst für den Fürsten so sehr an Bedeutung? Glenn Watkins gab dafür in seinem neuesten Gesualdo-Buch von 2009 eine überraschende Erklärung: Der Fürst wurde das Opfer von Hexerei im eigenen Haus.
Hexenprozess in Gesualdo
Im August 1603 schrieb ein Höfling des Fürsten von Venosa einen langen Brief an den spanischen Vizekönig von Neapel, in dem er von einem Hexenprozess im Palazzo zu Gesualdo berichtete:
„Auf Befehl Eurer Exzellenz wurde eine Untersuchung gegen Aurelia d’Errico aus Gesualdo eingeleitet, die angeklagt wird, seiner Gnaden, dem Fürsten von Venosa, Liebestränke eingeflößt und andere Hexereien gegen ihn ausgeführt zu haben. Dass besagte Aurelia zehn Jahre lang die Geliebte des Fürsten war, wurde durch verschiedene Zeugen bestätigt. Dass sie, nachdem der Fürst sie verlassen hatte, sich von ihm verraten fühlte, ist den Äußerungen von fünf Zeugen zu entnehmen. Einige von ihnen behaupten, sie habe gesagt: ‚Der Fürst hat mich verlassen, ich werde ihm etwas antun, so dass er ewig bei mir bleiben muss, und wenn er nicht bei mir bleibt, soll er auch keine andere Frau bekommen.’ Daraufhin hat sie dem Fürsten ihr eigenes Blut zu trinken gegeben und andere Zaubereien ausgeführt. Man hat zwei kleine Statuen gefunden, die mit Nägeln durchbohrt und aneinander gebunden waren, und zwei andere, die vor einer Tür des Palazzo vergraben waren, durch die der Fürst oft kam; darin befanden sich Haar, Fingernägel von Toten und andere laszive Objekte …“.
Das peinliche Verhör, dem die Angeklagte unterzogen wurde, brachte einen drastischen Fall von Verhexung zutage, eine Mischung aus Woodoo und unappetitlichen Liebestränken, die alle nur einem Ziel dienten: den Fürsten entweder zurückzugewinnen oder ihn mit dem „bösen Blick“, mit Krankheit und Tod zu schlagen. Tatsächlich litt Gesualdo seit geraumer Zeit an unerklärlichen Krankheiten, während seine Frau Eleonora unter der Atmosphäre im Palazzo und ihrem unbeherrschten Mann ohnehin grenzenlos zu leiden hatte. So erklären sich die zerfurchten Texte der Motetten von 1603 aus dem düsteren Szenario in Gesualdo: Don Carlo hatte mehr als nur einen Grund, die Heiligen um Fürsprache bei seinem Schöpfer zu bitten.
Fast schon vergessen war damals der grausame Mord an seiner ersten Frau, Maria d’Avalos, die er in flagranti mit ihrem Liebhaber ertappt und eigenhändig ermordet hatte. Im Gegensatz zu den Geschehnissen von 1603 fiel diese Gewalttat aber nach den Moralvorstellungen Neapels unter die „vendetta“ und war rechtlich nicht zu ahnden. Der Hexenprozess dagegen hatte fatale Konsequenzen: Die unglückselige Aurelia wurde vom neapolitanischen Gericht zum Tode verurteilt, von der römischen Inquisition aber begnadigt, so dass sie im Palazzo Jahre lang im Gefängnis saß – eine für alle Beteiligten unerträgliche Situation.
Miserere und Benedictus
Von 1603, dem Jahr der Motetten und des Hexenprozesses, bis zu Gesualdos Tod zehn Jahre später wurde seine häusliche Situation immer düsterer – ein Umstand, der sich musikalisch unmissverständlich in seinen Responsorien zur Karwoche widerspiegelt, die er 1611 veröffentlichte. Aus diesem Band stammen die beiden langen Gesänge, mit denen das Vocalconsort Berlin unser Konzert eröffnet und beschließt: das Miserere und Benedictus. Dabei handelt es sich um lange, textreiche Vertonungen des 50. Psalms und des Canticum Zachariae aus dem Lukasevangelium. Beide werden alternatim ausgeführt: Auf je einen Vers in Gesualdos Vertonung folgt ein Vers im Psalmton. Die Elemente werden ständig wiederholt, woraus das typische Gleichmaß liturgischer Gesänge entsteht, gleichsam eine Brücke von Gesualdos Mehrstimmigkeit zu den einstimmigen Gesängen der Hildegard. Nur wenige chromatische Ausweichungen erinnern in diesen frommen Gesängen an die Todesmusik, die Gesualdo für die eigentlichen Responsorien geschrieben hat.
Motetten
Von den beiden Motettenbänden, die der Fürst 1603 herausbrachte, ist der erste zu fünf Stimmen vollständig erhalten geblieben, der zweite zu sechs Stimmen aber Fragment: Es fehlen zwei Stimmen, Bassus und Sextus. Der erste, der sich an einer Vervollständigung versuchte, war 1959 Glenn Watkins, damals Mitarbeiter an der Gesualdo-Gesamtausgabe und „Assistant Professor“ für Renaissance-Kontrapunkt in Chapel Hill. Ihm gelang die erste Komplettierung – und die erstaunliche Entdeckung, dass zwei der Motetten im strengen Kanon gearbeitet sind, was sich bei Gesualdo nur an dieser Stelle findet. Die kanonische Setzweise lockte bald einen Musiker von ganz anderem Format an, nämlich Igor Strawinsky, der sich damals intensiv mit der Kunst des Kanons auseinandersetzte. Er schrieb zu den beiden fragmentarischen Kanon-Motetten Gesualdos eigene Komplettierungen.
Jahrzehnte nach diesen ersten Versuchen griff der Dirigent unseres Konzerts, James Wood, das Problem wieder auf und schrieb seinerseits eine neue vervollständigte Fassung der sechsstimmigen Motetten. (Siehe dazu seine Erläuterungen am Ende.) Unter den Motetten unseres Konzerts ist auch eine der Kanonmotetten: Assumpta est Maria. Sie zeigt exemplarisch, dass man es bei den Motetten von 1603 mit tradi-tionsbewussten Werken zu tun hat, denn sie beruht – ganz so wie Palestrinas gleichnamige Motette und Messe – auf dem gregorianischen Choral: dem Offertorium zum Fest Mariae Himmelfahrt. Die gregorianische Melodie erscheint als Cantus firmus im zweiten Tenor, gefolgt von einem Kanon in der Oberquint und der Oberoktav in Quintus und Sextus. Harmonisch, rhythmisch und im polyphonen Satz wandelt die Motette auf den Pfaden Palestrinas, ohne die bei Gesualdo üblichen Exzesse in Chromatik und Stimmführung. Es bleibt eine zutiefst kirchliche Musik – angemessen dem Neffen des berühmten Mailänder Erzbischofs Borromeo, ungewöhnlich aber für den manischen Fürsten von Venosa. In den übrigen Motetten tritt Chromatik deutlicher hervor – auch dank der von James Wood ergänzten fehlenden Stimmen.