Hebräische Melodie für Violine und Klavier, op. 33
Werkverzeichnisnummer:
Calmato e con molto piangere
Die „Hebräische Melodie“ von Joseph Achron zählt zu den beliebtesten Zugabenstücken der Violinliteratur. Von Achrons Freund Jasha Heifetz über Nathan Milstein und Henryk Szeryng bis zu Itzhak Perlman haben zahllose große Geiger diese bewegende jüdische Melodie aus der Warschauer Synagoge in Achrons Bearbeitung aufgeführt. Heute ist sie das einzige Repertoirestück aus der Feder eines Komponisten, der zu den Vorreitern jüdischer Konzertmusik zählte. Hagai Shaham und Arnon Erez haben dem großen Geiger und Komponisten Joseph Achron eine Doppel-CD gewidmet.
Schon eine Generation vor Ernest Bloch bemühte sich Achron um eine spezifisch jüdische Musik aus traditionellen Wurzeln, und zwar zunächst in seiner russischen Heimat, später in Berlin und in den USA. 1886 in Litauen geboren, war er russischer Untertan. Als die Familie nach Warschau umzog, bekam er mit fünf Jahren den ersten professionellen Geigenunterricht. (Sein Bruder Isidore wurde Pianist und später Duoartner von Heifetz.) Joseph war ein Wunderkind: Mit 7 schrieb er seine erste Komposition, mit 9 gab er sein Konzertdebüt in Sankt Petersburg, mit 13 ging er auf seine erste Tournee durch die Weiten des russischen Reiches und spielte vor der Zarenfamilie. Als seine Familie sich endlich in Sankt Petersburg niederließ, wurde er am Konservatorium Schüler des legendären Leopold Auer – wie nach ihm Heifetz, Milstein, Zimbalist und zahllose andere Weltklassegeiger. Auch Joseph begann erfolgreich eine internationale Solistenkarriere, dann aber nahm sein Leben eine unerwartete Wendung: 1911 kam er mit der Gesellschaft für jüdische Volksmusik in Berührung, die drei Jahre zuvor in Sankt Petersburg gegründet worden war. Ihre Mitglieder suchten nach den Wurzeln jüdischer Musik, zeichneten jüdische Gesänge auf und verarbeiteten sie in zeitgemäßer Form. Als Kompositionsschüler von Ljadow und Bewunderer Skrjabins verfügte Achron über ein klassisches Komponistenhandwerk, das er nun ganz in den Dienst dieser Idee einer spezifisch jüdischen Musik stellte.
Sein erstes Stück, das er unter dem neuen Einfluss komponierte, war seine Hebräische Melodie, op. 33, entstanden 1911, aber erst viel später als „Hebrew Melody“ in den USA gedruckt. Er griff hier ein Thema auf, das er als Kind in der Warschauer Synagoge gehört hatte, und widmete die Bearbeitung dem Andenken an seinen verstorbenen Vater. Calmato e con molto piangere („Beruhigt und mit viel Weinen“) lautet die Vortragsanweisung dieses tief bewegenden Klagegesangs, der immer schneller und aufgeregter wird, bis er in einer Geigenkadenz gipfelt. Schon bei der Uraufführung spielte Achron diese Melodie als Zugabenstück, am Ende eines Ballkonzerts im Hause eines Adjutanten des Zaren. Der spontane Erfolg gab ihm Recht: Er wollte sich fortan ganz dem Ideal jüdischer Musik verschreiben.
In den letzten Jahren des zaristischen Russland und den ersten Jahren nach der Oktoberrevolution vertrat er dieses Ziel noch in der Heimat. Er studierte Synagogengesänge und weltliche jüdische Musik, verarbeitete sie in Stücken wie Hazzan für Violoncello und Klavier und zahllosen anderen Werken. Als aber die Polemik gegen die Juden im Sowjetstaat zunahm, verließ er Russland und ging ins Exil nach Berlin, wo seine erste Schauspielmusik zu einem jüdischen Drama entstand (Belshazzar). Als auch diese Berliner Bemühungen um ein spezifisch jüdisches Musik- und Theaterleben zu scheitern drohten, emigrierte Achron mit seiner Frau Marie in die USA, zunächst nach Chicago, dann nach New York. In Manhattan blieb er zehn Jahre, komponierte Schauspielmusiken für das Yiddish Art Theater von Maurice Schwarz und lehrte am Westchester Conservatory of Music. Daneben trat er weiter als Solist auf, etwa zum 80. Geburtstag seines Lehrers Auer in der Carnegie Hall oder bei der Uraufführung seines ersten Violinkonzerts.
1934 zogen die Achrons nach Los Angeles um. Dort versuchte sich Joseph mit wenig Erfolg im neuen, lukrativen Metier der Filmmusik, komponierte aber auch weiterhin klassische Konzertwerke, die zunehmend weniger jüdisch geprägt waren als vielmehr von der Auseinandersetzung mit der Avantgarde. Sein zweites und drittes Violinkonzert hob er mit dem Los Angeles Philharmomic Orchestra unter Otto Klemperer aus der Taufe. Als er 1943 im Alter von nur 56 Jahren starb, schrieb sein enger Freund Arnold Schönberg: „Joseph Achron war einer der am meisten unterschätzten modernen Komponisten. Die Originalität und gründliche Ausarbeitung seiner Ideen stellen sicher, dass sein Werk bleiben wird.“
Karl Böhmer