Streichtrio Nr. 1, H. 136 | Kammermusikführer - Villa Musica Rheinland-Pfalz

Bohuslav Martinu

Streichtrio Nr. 1, H. 136

Trio Nr. 1 für Violine, Viola und Violoncello, H. 136

Besetzung:

Werkverzeichnisnummer: 4267

Satzbezeichnungen

1. Allegro
2. Andante
3. Poco allegro

Erläuterungen

2009:

Achtzig Jahre lang galt das erste Streichtrio des tschechischen Komponisten Bohuslav Martinu als verloren, bis es im Dezember 2005 einem begeisterten Publikum in Prag vorgestellt wurde. Wie aus dem Nichts waren die Noten wieder aufgetaucht, als die tschechische Musikwissenschaftlerin Eva Velicka in Dänemark auf der Suche nach einem Ballettmanuskript auch bei der Königlichen Bibliothek in Kopenhagen angeklopft hatte: „Wie viele wissenschaftliche Entdeckungen ist auch diese zufällig passiert. Ich war auf der Suche nach einem Ballett-Autograph von Martinu. Nach der Korrespondenz zu urteilen, sollte es irgendwo in Dänemark archiviert sein. Daraufhin habe ich mehrere Institutionen in Dänemark kontaktiert, die mich an die Königliche Bibliothek verwiesen. Dort fand ich tatsächlich das gesuchte Autograph, und außerdem erwartete mich dort eine kleine Überraschung: das Streichtrio Nr. 1, das als verloren galt, sich aber in Wahrheit seit 30 Jahren in diesem Archiv befindet.”

Die Bibliothek hatte das Autograph, bestehend aus der Partitur und Einzelstimmen für Viola und Violoncello, 1978 bei einem deutschen Antiquariat erworben. Wie es dorthin gelangte, bleibt ein Rätsel. Martinu war unvorsichtig genug, dem Ondricek-Quartett für die Prager Erstaufführung 1925 sein Originalmanuskript zu schicken, ohne vorher eine Abschrift anzufertigen. In einem Brief mahnte er einen Freund: „Ich bitte Dich, kümmere dich auch um die Partitur, damit das nicht verloren geht; ich habe weder Skizzen noch Abschriften.“ Der befürchtete Fall ist dann offenbar eingetreten: Die Noten verschwanden in Prag und tauchten erst bei der Antiquariatsversteigerung 1978 wieder auf, ohne dass die Musikwelt davon Kenntnis genommen hätte. Denn sofort verschwand das Manuskript wieder, gewissenhaft archiviert, in den Regalen der Kopenhagener Bibliothek.

Der Fall, dass von einem bedeutenden Werk nur ein einziges Manuskript existiert das Jahrzehnte lang in Privatsammlungen und Archiven vor sich hin vegetiert, während das Stück offiziell als verloren gilt, ist in der neueren Musikwissenschaft keineswegs selten. Auf diese Weise wurden in den letzten Jahren unbekannte oder verschollene Kompositionen von Bach, Alessandro Scarlatti, Händel, Vivaldi und vielen anderen Barockkomponisten wieder entdeckt. In der Musik des 20. Jahrhunderts ist der Fall allerdings selten, wurden solche Stücke in der Regel doch sofort abgeschrieben oder sogar gedruckt. Im Falle des ersten Martinu-Trios war es eine gewisse Unzufriedenheit des Komponisten, die ihn wohl von weiteren Nachforschungen nach dem verlorenen Manuskript abhielten.

Martinu war schon 33 Jahre alt, als er das Trio in Paris vollendete. 1923 war er in die französische Hauptstadt gekommen, um bei Albert Roussel zu studieren. Was als Studienaufenthalt von einigen Monaten geplant war, wurde zu einem Lebensabschnitt von 17 Jahren: In Paris lernte Martinu seine spätere Frau kennen, hier fand er einen Verleger und ein begeistertes Publikum, allerdings erst, nachdem er sich in das Leben der Weltstadt und ihre mondäne Musikszene hinein gefunden hatte. Gemessen an den Hunderten von Komponisten aus aller Welt, die hier in den Zwanziger Jahren im Schatten von Strawinsky studierten und produzierten, war Martinu ein Anfänger aus der tiefsten Provinz. Er war in einem Dorf in der böhmisch-mährischen Hochebene aufgewachsen und hatte beim Dorfschuster das Geigespielen erlernt. Sein erster Versuch, in Prag Violine zu studieren, war kläglich gescheitert. Erst bei einem neuerlichen Anlauf konnte er auch seine Neigung zum Komponieren entfalten und bei Josef Suk, dem Schwiegersohn Antonin Dvoraks, ein Studium aufnehmen. Nebenher spielte er als Geiger in der Tschechischen Philharmonie. An der Virtuosenlaufbahn der meisten Pariser Musiker konnte sich diese Vita nicht messen. Auch was Martinu in Prag an Werken geschrieben hatte, war eher von ungezügelter Fantasie geprägt. Sein Lehrer Roussel hatte dem jungen Mann aus Tschechien also erst einmal den Weg zu einem eigenen Stil zu weisen.

Das erste Werk auf diesem Weg war das erste Streichtrio. Im November 1923 begonnen und Mitte Januar 1924 vollendet, empfand es der Komponist bereits wenige Monate später als „eine diffuse Arbeit, denn ich war in Paris noch nicht recht angekommen“. Selbstkritisch meinte er: „Der letzte Satz ist nicht gut, weil das Thema zu exponiert ist.“ Nur mit dem Klang war er zufrieden, wobei er ironisch den „Brei“ seiner Prager Kollegen aufs Korn nahm: „Es klingt gut, weil es klar und sauber ist, alles andere ist rein thematische Arbeit. Aber das werde ich wohl nicht mehr los, dass sie mir immer vorwerfen, dass meine Musik gut klingt. Gemessen an dem Brei, der bei uns zuhause gemacht wird, ist das allerdings schon ein Klang!“ Prompt wunderte sich die Prager Presse nach der tschechischen Erstaufführung 1925 über den „unterhaltenden“ Charakter des Trios, das so gar nicht im spätromantischen Sinne „bewegen“ wolle, und über die „beträchtliche klangliche Erfindungsgabe“ des Komponisten!

Martinus Lehrer Roussel, der selbst ein wundervolles Streichtrio geschrieben hat, war mit dem Stück zufrieden, „auch wenn er hier und da den Kopf schüttelte“, wie der junge Komponist in einem Brief bekannte. Insgesamt ist das Trio ein Werk des Übergangs zwischen dem Prager und dem Pariser Martinu. So hat es Ales Brezina, der Direktor des Martinu-Instituts in Prag, beschrieben: „Man kennt von ihm die früheren Werke, die er noch in Prag komponiert hatte. Diese sind meistens sehr unreif, denn Martinu ist erst mit 33 oder 34 Jahren zum reifen Komponisten geworden. Im Streichtrio hört man bereits viele Züge der Reife, man hört da eigentlich einen Dialog zwischen dem, was kommt, und dem, was bereits vorhanden war. Das technische Handwerk ist da, Martinu hat bis zu dem Zeitpunkt etwa 130 Werke komponiert, aber bis dato hatte er Schwierigkeiten, seine eigene Musiksprache zu finden … Es ist ein Werk, das ganz merkwürdig Merkmale der früheren Phase Martinus aufweist und etwas Rhapsodisches und rhythmisch sehr Freies hat. Auf der anderen Seite hat es etwas Dissonantes, das Martinu in Paris gehört hatte – zum Beispiel in den Werken von Strawinsky. Der dritte Einfluss ist ganz eindeutig der Jazz. In diesem Werk hört man zum ersten Mal ganz klar die Jazz-Rhythmen, die nachher sein Schaffen der Zwanziger Jahre bestimmen.“

Die spezifische Inspiration, die Paris für Martinu bedeutete, hat Eva Velicka folgendermaßen beschrieben: „Ich glaube nicht, dass wir hier über Frankreich sprechen können, eher schon über Paris – das war ein Phänomen, wo sich die ganze Welt traf. Der Einfluss der russischen Komponisten war hier sehr groß. Martinu war ein Komponist, der sich nicht nur von anderen Musikern inspirieren ließ. Er hatte auch viele Maler als Freunde und arbeitete mit französischen Surrealisten zusammen. Ich kann also nicht sagen, dass es in Paris eine besondere Musikrichtung gab, die ihn inspiriert hat. Dort gab es eine Mischung aus allem. Und die hat Martinu in seine Musik aufgenommen.“

An mehreren Stellen hat Martinu die „Klarheit“, die ihm vorschwebte, ausdrücklich gefordert. So beginnt der erste Satz mit einem kraftvollen Thema der Geige über einem vollen zweistimmigen Klanggrund der Bratsche. Dieses erste Thema wandert über das Cello schließlich auch in die Viola, bevor sich der Satz lichtet und das gesangliche zweite Thema eintritt. Hier hat Martinu bei den Pizzicati von Viola und Violoncello ausdrücklich chiaro („klar“) vorgeschrieben. Ein drittes, rhythmisch kraftvolles Motiv rundet den Bogen dieses Satzes ab.

Als besonders gelungen empfanden die Prager Kritiker den langsamen Satz, „der mit seinem kühnen Bau und dem melodischen Reichtum den Höhepunkt des Werkes darstellt“. Aus einer zarten Geigenmelodie in A-Dur steigert sich der Satz allmählich bis zu einem kraftvollen Höhepunkt, um in träumerischen Wiederholungen eines Dolce-Motivs auszuklingen.

Das Finale, mit dem Martinu selbst nicht recht zufrieden war, nannte auch die Prager Kritik „viel schwächer als die beiden vorangehenden Sätze“. Das tänzerische Thema ist in der Tat auf fast penetrante Weise präsent: Ständig wandert es zwischen den Stimmen hin und her, teils in Engführung, teils im fugierten Satz. Auch hier ist allerdings der Klang besonders reizvoll, so etwa, wenn die Bratsche zu Beginn das Thema durch Doppelgriffe anreichert oder später in ganz volksmusikalischer Manier über einem Bordun intoniert. Mitreißend der Schluss im Allegro con brio.

Die erste Wiederaufführung des wieder entdeckten Trios spielten im Dezember 2005 in Prag Mitglieder des Zemlinsky-Quartetts – übrigens Musiker, die schon bei Villa Musica zu Gast waren. Bei der heutigen Aufführung durch das Trio Echnaton könnte es sich durchaus um die deutsche Erstaufführung handeln, da das Werk seinerzeit 1924/25 in Deutschland nicht erklungen ist und sich auch für die letzten drei Jahre zumindest im Internet keine Aufführungen in Deutschland ermitteln ließen.

Karl Böhmer

2008:

DER TSCHECHE MARTINU ging in seiner Streicherkammermusik weder von kontrapunktischen Prinzipien noch von abstrakten Themenmodellen, sondern von den virtuosen Möglichkeiten der Streicher aus. Seine Duos, Trios und Quartette gehören deshalb zum Dankbarsten, was in der ersten Hälfte unseres Jahrhunderts für Streicherensemble komponiert wurde. Nicht nur in dieser klanglichen Hinsicht erscheint Martinu als der eigentliche Nachfolger Dvoraks in der Kammermusik.

Wie Dvorak verarbeitete er mit Vorliebe die Volksmusik seiner Heimat, und zwar auch und gerade während seiner langen Jahre in Frankreich und im amerikanischen Exil. Als junger Streicher in der Tschechischen Philharmonie lernte er in den 1910er Jahren die Musik Debussys und Ravels kennen und ging, sobald es ihm ein kleines Stipendium erlaubte, nach Paris, um dort bei Albert Roussel zu studieren. Trotz beachtlicher Erfolge in den Künstlerkreisen der französischen Metropole blieb er während der gesamten Pariser Jahre arm und auf das magere Einkommen seiner Frau angewiesen. 1940, buchstäblich in letzter Sekunde, floh er vor den Deutschen nach Südfrankreich und gelangte nach einer abenteuerlichen Flucht schließlich 1941 nach New York – ein zweites Mal vor dem Nichts und fern der über alles geliebten Heimat, die er auch nach dem Kriege nicht wiedersehen sollte.

“Er ist ein Klassiker der tschechischen Moderne und einer der bedeutendsten tschechischen Komponisten des 20. Jahrhunderts: Bohuslav Martinu (1890-1959). Dass es auch in seinem gut erforschten Werk buchstäblich immer noch Neues zu entdecken gibt, bewies nun die junge Prager Musikwissenschaftlerin Eva Velicka. In Dänemark spürte sie das Originalmanuskript von Martinus Streichertrio Nr. 1 aus dem Jahre 1924 auf. Nach 80 Jahren erlebte die Komposition, die bislang als verschollen galt, am Sonntag in Prag ihre erste Neuaufführung.” (Eva Velicka)

Direkt aus Bohuslav Martinus Manuskript hatten die Mitglieder des Zemlinsky-Quartetts die Noten für die Neuaufführung des Streichertrios Nr. 1 transkribiert. Das Werk entstand an der Jahreswende 1923 / 1924. Der 33-jährige Martinu war kurz zuvor nach Paris übersiedelt und hatte bis dahin – noch auf der Suche nach einem eigenen Stil – unter dem Einfluss von Komponisten des 19. Jahrhunderts wie Wagner und Mahler gestanden. “Das Spannendste an diesem Werk ist, dass es einen Monat nach der Umsiedlung schon völlig andere Züge zeigt. Es gehört für die damalige Zeit zu der krassesten Moderne und zeigt die Bekanntschaft mit dem Schaffen von Strawinsky und Albert Roussel, dem Lehrer von Martinu, und man hört vor allem im zweiten und dritten Satz Züge, die man dann bis Ende der 30er Jahre in den Werken von Martinu immer wieder findet: etwa das rhythmische Kombinieren von Jazz und von der böhmisch-mährischen Folklore, und auch die ausgesprochene Klanglichkeit des zweiten Satzes – wie die Rufe der Hirtinnen in den Bergen in der mährischen Slowakei!“Zemlinsky-Quartett – Foto: Zdenek ChrapekSo Ales Brezina, der Leiter des Prager Bohuslav-Martinu-Institutes. Entdeckt hat das Trio nach 80-jähriger Verschollenheit die junge Musikwissenschaftlerin und Institutsmitarbeiterin Eva Velicka. Eigentlich hatte sie in der dänischen Nationalbibliothek nach Ballettpartituren gefahndet:“Leider hatten gab es dort nichts zu den Balletten, aber wie so oft in der Wissenschaft spielt ein Zufall die entscheidende Rolle, und die Bibliothek hat mir etwas anderes angeboten, nämlich das Autograph dieses Trios.“Für das kommende Jahr ist die Edition des Trios geplant, weitere Aufführungen sollen folgen. In Vergessenheit wird das Werk jedenfalls nicht mehr geraten – das zeigt auch die begeisterte Reaktion des Prager Publikums nach der Uraufführung, und da ist sich auch der Musikologe Ales Brezina sicher:“Es ist ein bedeutendes Werk, es ist ein Werk, das sicherlich seinen Weg in das Repertoire von internationalen Ensembles finden wird, und es ist vor allem ein Werk der Wende.” (Bericht in Radio Prag vom 18.3.2008)