Sextett, op. 37
Werkverzeichnisnummer: 4266
Ernö von Dohnányi, der Großvater des Dirigenten Christoph und des ehemaligen Hamburger Oberbürgermeisters Klaus von Dohnányi, war nicht nur einer der genialsten Pianisten des 20. Jahrhunderts und ein Organisationsgenie, dem Ungarn wesentliche Teile seines modernen Musiklebens verdankt. Er war auch und vor allem ein Komponist der Brahms-Nachfolge, der Opern, Sinfonik und Kammermusik von keineswegs nur marginaler Bedeutung geschrieben hat.
Im Falle von Dohnányi ist die Kontinuität zu Brahms eine unmittelbare: Der Budapester Kompositionsprofessor Hans Koessler spielte das Klavierquintett seines 15jährigen Schülers in Wien seinem Freund Brahms vor, der davon so angetan war, dass er sich in Folge für die Kompositionen des jungen Ungarn einsetzte. Dank Koessler kam Dohnányi in persönlichen Kontakt zu Brahms und erhielt dadurch entscheidende Anregungen, die sein Form- und Stilverständnis lebenslang prägen sollten.
„Meisterschaft in Form und Stil der Sonate wird heute fast automatisch auf den Einfluss von Brahms zurückgeführt,“ so urteilte der englische Historiker Donald Tovey 1929, „und in der Tat verdankt Dohnányi der intimen Kenntnis der Werke von Brahms ebensoviel wie der persönlichen Bekanntschaft mit ihm. Viele Passagen in seinen reifsten Werken kann man immer noch aus Brahmsschen Ursprüngen ableiten. Dennoch ist der Einfluss von Brahms weder in Form noch Stil das beherrschende Merkmal von Dohnányis Werk.“
Das Sextett, op. 37, ist das letzte der neun bedeutenden Kammermusikwerke, die Dóhnanyi unter Opuszahlen veröffentlichte. Es wurde 1935 in Budapest geschrieben und lässt – trotz des ungebrochenen Bekenntnisses zum viersätzigen Sonatenzyklus und der Formenwelt von Brahms – das weite Stilpanorama der 1930er Jahre erkennen. Apart ist die Besetzung, die dem Canto della Notte II von Kirchner entspricht: Klarinette und Horn treten dem Streichtrio gegenüber, während das Klavier mal den Ensembleklang rundet, mal solistisch hervortritt. Allenthalben spürt man die Brillanz des Pianisten Dohnányi, dessen Variationen über ein Kinderlied zu den großen Klavierkonzerten des 20. Jahrhunderts zählen und dessen feine Anschlagskultur noch heute in einer wunderbaren Einspielung des G-Dur-Klavierkonzerts KV 453 von Mozart zu bestaunen ist.
Der erste Satz des Sextetts steht in ausgeprägter Sonatenform mit drei Themen, Durchführung, Reprise und Coda. Er scheint in seinen großen Steigerungen und seinen überraschenden Brüchen die Erfahrung der Sinfonik Gustav Mahlers widerzuspiegeln. Das Intermezzo genannte Adagio dagegen variiert den romantischen Topos des feierlichen Marsches. Das Scherzo mit der Vorschrift Allegro con sentimento wirkt in seiner klassizistisch feinsinnigen Manier wie eine Reminiszenz an Mendelssohn, das Finale wartet mit überraschend deutlichen Anklängen an den Jazz auf. Komponisten aus anderen ehemaligen Teilen der Donaumonarchie wie etwa der Prager Erwin Schulhoff hatten sich schon kurz nach dem Ersten Weltkrieg mit Begeisterung den Neuerungen des Jazz zugewandt. Auch Dohnányis enge Freunde Béla Bartók und Zoltan Kodály bezogen in den 30er Jahren Jazz-Elemente in ihre Musik mit ein. Offenbar wollte sich Dohnányi diesem Trend anschließen. Sein Finale wird von einer Art Ragtime für Klarinette und Klavier eröffnet, dem das Streichtrio antwortet. Erst am Ende lenkt die Entwicklung zum Material des Kopfsatzes zurück und erreicht damit die obligatorische zyklische Abrundung im Sinne der Spätromantik.