Romanzen des jungen Verdi in Arrangements für Singstimmen und 9 bzw. 10 Instrumente von Andreas Tarkmann und Klaus Arp (Nr. 5 und 9)
Werkverzeichnisnummer: 4252
Preludio. Allegro
1. Lo spazzacamino. Allegro
2. Ad una stella. Andantino (melancolico)
3. Il poveretto. Andante piùttosto mosso
4. In soltaria stanza. Andante mosso
5. Perduta ho la pace
6. Deh, pietoso, oh Addolorata. Adagio
7. Brindisi. Allegretto
8. L’esule. Andante
9. Notturno. Andante mosso
Giuseppe Verdi
Verdiana
1838 erschienen in Mailand die ersten gedruckten Werke eines jungen Komponisten, der in der lombardischen Provinz als Kirchenorganist und Musikschullehrer wirkte: Sechs Romanzen für Singstimme und Klavier eines gewissen Giuseppe Verdi. Im blühenden Mailänder Musikleben der Romantik, das von Stars wie Bellini, der Pasta und der Malibran beherrscht wurde, war der 25-jährige Lombarde ein Außenseiter, denn er kam aus einfachen Verhältnissen und hatte sich mühsam zur Metropole durchgekämpft.
Mit fünf Jahren hatte der Sohn eines Gastwirts im kleinen Roncole auf einem alten Spinett unter der Anleitung des Dorforganisten seine musikalischen Grundlagen gelegt und so rasch Fortschritte gemacht, dass er schon mit zehn ins größere Busseto übersiedeln durfte, wo die Philharmonische Gesellschaft auch armen Bauernkindern eine musikalische Ausbildung ermöglichte. In dem Kaufmann Antonio Barezzi lernte Verdi dort seinen Mäzen und zukünftigen Schwiegervater kennen.
Obwohl er in der Provinz bald als junges Genie gefeiert wurde, musste er bei der Bewerbung am Mailänder Konservatorium die Erfahrung machen, dass der Prophet im eigenen Lande nichts gilt: Die gestrengen Professoren rügten seine Klaviertechnik und hielten ihn für provinziell. Barezzi aber engagierte ihm einen erstklassigen Lehrer, Vincenzo Lavigna, einen Neapolitaner alter Schule und Kapellmeister an der Scala. So lernte der junge Giuseppe die Grundlagen der Komposition und des Dirigierens – und er erhielt Opernkarten für die Scala. Als Dirigent debütierte er in einer Aufführung von Haydns Schöpfung, als Komponist mit den besagten Romanzen von 1836. In ihnen schlägt sich seine Liebe zum Gesang nieder, die in der Scala von den besten Sängerinnen der Epoche genährt wurde. Die große französisch-spanische Mezzosopranistin Maria Malibran konnte Verdi in ihrer Glanzzeit kurz vor ihrem tragischen Tod 1836 hören und meinte später von ihr: „Die Allergrößte, aber nicht immer gleich! Manchmal göttlich und manchmal verschroben. Ihr Gesangsstil war nicht der reinste, ihre Stimme schwach in den hohen Noten. Dennoch eine über die Maßen große Künstlerin – bewundernswert.“ Diese Bewunderung für die Kunst der Malibran und die ihrer Konkurrentin Giuditta Pasti schlägt sich in seinen frühen Romanzen ebenso nieder wie der unmittelbare Eindruck, den die beiden Primadonnen in den Rollen Vincenzo Bellinis auf ihn machten. Der junge Verdi steht noch ganz in der Tradition der Belcanto-Oper.
Dass seine frühen Lieder heute fast vergessen sind, ist die Schuld seiner allzu rasch einsetzenden Opernkarriere: Mit seinem Oberto feierte er 1839 einen viel beachteten Einstand an der Scala, 1842 folgte der Sensationserfolg des Nabucco mit Giuseppina Strepponi in der Hauptrolle – seiner späteren Lebensgefährtin. 16 Jahre ununterbrochenen Schaffens für die Bühne folgten, seine „Galeerenjahre“, wie Verdi sie später nannte, so dass fast keine Zeit mehr für das Komponieren von „Romanzen“ blieb, wie man in Italien damals generell Lieder nannte. Auf sein erstes Opus von sechs Liedern ließ er nur noch ein zweites folgen. Wieder waren es Sechs Romanzen, 1845 in Mailand veröffentlicht. Daneben schuf er in jenen Jahren noch einzelne Gesänge für die Kammer wie etwa das 1839 publizierte Notturno für drei Singstimmen, Flöte und Klavier.
Um der notorischen Vernachlässigung des frühen Verdi ein wenig Abhilfe zu schaffen, hat der erfahrene Arrangeur Andreas Tarkmann unter dem Titel Verdiana sieben jener Kammergesänge zu einem Zyklus zusammengefasst, indem er die Klavierbegleitung für größeres Instrumentalensemble bearbeitete und eine Ouvertüre hinzufügte.
Unsere Interpreten haben diesen Zyklus wiederum erweitert um zwei einzeln überlieferte Romanzen: das schon erwähnte Notturno für drei Singstimmen und eine Vertonung von Gretchen am Spinnrade aus Goethes Faust I – natürlich in italienischer Sprache, wie alle Lieder von Verdi. Die Arrangements dieser beiden Sätze hat Klaus Arp, der künstlerische Leiter der Villa Musica, selbst ein erfahrener Opernkomponist und Dirigent, eigens für dieses Projekt besorgt. Seine beiden Arrangements erleben in unseren Konzerten ihre Erstaufführungen. Klanglich besonders reizvoll ist das Notturno, in dem eine Soloflöte den Gesang der Nachtigall nachahmt, während das Terzett der Singstimmen die Schönheit einer mondbeschienenen Nacht besingt.
Nur wenige Romanzen von Verdi geben sich so ungehemmt romantischer Naturbetrachtung hin. Die meisten seiner Lieder zeugen von einem ganz anderen Interesse des Meisters: seinem Blick für soziale Missstände, wie ihn sich auch der Opernkomponist Verdi lebenslang bewahrte. Als Kind aus einfachen Verhältnissen kannte er die sozialen Brennpunkte der italienischen Gesellschaft und kehrte sie nicht unter den Tisch einer weltfremd schwärmerischen Romantik. Die Philharmonische Gesellschaft in Busseto förderte diese Neigung nach Kräften, galt sie doch als eine Zelle der Liberalen, das sogar ins Visier der Geheimpolizei von Parma geriet.
In diesem musikalischen Zirkel, der zugleich eine Lesegesellschaft war, kam Verdi mit den sozialkritischen Gedichten moderner Lyriker wie Andrea Maffei oder Manfredo Maggioni in Berührung, die er für seine Lieder auswählte. Maggioni zeichnet in seinem Gedicht Il poveretto das rührende Porträt eines Veterans, der vom Vaterland vergessen zum Bettler wurde. Maffei lässt in seinem Brindisi, einem musikalischen Trinkspruch, einen Trinker mit der Untreue der Welt übel ins Gericht gehen. Maggionis Schilderung des Schornsteinfegers führt uns eine weitere Randfigur der feinen Gesellschaft herzhaft, aber mit bitterem Beigeschmack vor Augen. Temistocle Soleros L’esule lässt einen politisch Verbannten traurig von der verlorenen Heimat erzählen – unter dem Regime der Österreicher in der Lombardei waren Verbannungen politischer Alltag. Schon 1839, als er dieses Lied komponierte, stand Verdi im Brennpunkt des gerade entstehenden Risorgimento.
All diese Gedichte sind nicht umsonst Monologe kraftvoller Charaktere: Mit sicherer Hand suchte sich Verdi solche Figuren aus, die auch auf der Opernbühne bestehen könnten. Seine Musik ist entsprechend theatralisch, gestisch, extrovertiert. Diese Qualitäten ließ er auch einer berühmten Gestalt des deutschen Dramas zuwachsen: dem Gretchen aus dem Faust. Die beiden Szenen aus dem ersten Teil der Tragödie, Gretchen am Spinnrade und Gretchen vor dem Bildnis der Mater dolorosa, sind unmittelbar opernhaft aufgefasst. Sie belegen, wie sehr im Italien des Risorgimento Goethe neben Schiller zum Parnass der meist bewunderten (und meist vertonten) Dichter gehörte.