Rekonstruktion der Urfassung für Streichsextett und Kontrabass von Rudi Leopold
Werkverzeichnisnummer: 4249
Richard Strauss
Metamorphosen
Unser zweiter Programmpunkt unterbricht den musikalischen Spaziergang durch Wien und führt uns nach Bayern, in die letzten Kriegsmonate 1945. Richard Strauss arbeitete damals in seinem Haus in Garmisch an einem Andante für Streichsextett mit Kontrabass, von dem er noch nicht ahnte, dass daraus sehr bald die Metamorphosen für 23 Solostreicher werden sollten. Anfangs dachte er – wie beim Sextett aus seiner Oper Capriccio – an ein Kammermusikwerk, doch dann bestellte Paul Sacher ein Werk für Streichorchester, und Strauss verwendete dafür das begonnene Septett, von dem sich alsbald jede Spur verlor. Deshalb wussten bis vor wenigen Jahren noch nicht einmal die Experten, dass der klanglich üppigen Endfassung der Metmorphosen eine verschollene Frühfassung für sieben Spieler vorausging – so lange, bis das Wiener Streichsextett jene Urfassung mit Genehmigung der Strauss-Erben rekonstruierte. Wie es dazu kam, erzählt der Cellist des Ensembles und Hauptbearbeiter, Rudi Leopold:
„Im Jahre 1990 wurde ein Particell der ‚Metamorphosen‘ in der Schweiz aufgefunden und von der Bayerischen Staatsbibliothek München erworben. Besonders bemerkenswert ist die auf der ersten Seite von Strauss geschriebene Angabe: Metamor-phosen. Andante (für 2 Violinen, 2 Bratschen, 2 Celli , 1 Contrabaß) – Richard Strauss, aus der der ursprüngliche Plan einer Besetzung mit sieben Solostreichern hervorgeht.
Offenbar arbeitete Strauss schon längere Zeit an diesem Werk, als ihn der Auftrag von Paul Sacher erreichte, der sich ja eine größere Streicherbesetzung wünschte und unter dessen Leitung es auch am 25. Jänner 1946 in Zürich uraufgeführt wurde. Bei der Realisation der „Urfassung“ für Streichsextett und Kontrabass haben wir neben dem Particell auch die endgültige Partitur herangezogen, so dass nun das vollständige Klangbild in kammermusikalischer Form entsteht, wobei interessante Details des Particells (wie z. B. die originelle Schlussmodulation) beibehalten wurden. Die Erstaufführung dieser Version fand am 8. Juni 1994 anlässlich der Richard-Strauss-Tage in Garmisch-Partenkirchen statt.“
Der Titel Metamorphosen bezieht sich bekanntlich auf die dauernde Verwandlung des erst am Ende deutlich hervortretenden Zitats der Takte 3 und 4 aus Beethovens orchestralem Trauermarsch, dem langsamen Satz der Eroica. Obwohl Strauss diesen Anklang angeblich unbewusst in sein Werk verwoben hat, scheint doch die Absicht hier Vater des Gedankens gewesen zu sein. Denn die Metamorphosen waren für ihn nichts anderes als eine Trauermusik für das zerstörte Dresden und die anderen im Bombenhagel untergegangenen deutschen Städte. Gerade in den letzten Monaten des Krieges wurde für den alten Strauss die Rückwendung zur Wiener Klassik zum Bekenntnis: Das Bombeninferno war ihm gleich bedeutend mit dem Untergang der deutschen Kultur. Als Mahnmal für deren große Meister entwarf er seine instrumentalen Spätwerke.
Wie nostalgische Rückschau wirken ihre Dedikationen: „Den Mahnen des göttlichen Mozart am Ende eines dankerfüllten Lebens“ widmete er seine zweite Sonatine für 16 Bläser, den Vorbildern Beethoven und Wagner die Metamorphosen, wobei auch die Gegenüberstellung der beiden Klangmedien Bläser (Mozart) – Streicher (Beethoven) programmatische Züge trägt. Die sozusagen glühende Tonalität dieser Werke, ihr Rückgriff auf Themen der großen Meister und deren Stil rechtfertigte sich aus der geschilderten Zeitsituation. War Strauss früher bedingungslos dem stilistischen Fortschritt gefolgt, so verraten seine Spätwerke ein Beharren auf den musikalischen Grundfesten des klassischen Erbes.