Quartett B-Dur für zwei Violinen, Viola und Violoncello, op. 130 (Urfassung mit der „Großen Fuge“)
Werkverzeichnisnummer: 4233
1. Adagio, ma non troppo – Allegro
2. Presto
3. Andante con moto, ma non troppo
4. Allegro assai (Alla danza tedesca)
5. Cavatina. Adagio molto espressivo
6. Finale. Allegro
Overtura. Allegro – Allegro – Fuga
Ludwig van Beethoven
Opus 130 mit der „Großen Fuge“
Wie alle späten Quartette Beethoven hinterließ auch das B-Dur-Quartett, op. 130, bei den Zeugen der Uraufführung am 21. März 1826 in Wien einen eher zwiespältigen Eindruck. Die Allgemeine Musikalische Zeitung berichtete:
„Am 21sten, im Saale des Vereins, eine von Herrn Schuppanzigh zum Schlusse der diesjährigen Abonnement-Quartetten veranstaltete Abendunterhaltung:
1. aus Haydn’s Quartetten, die Variationen über das Volkslied.
2. Marie, Gedicht von Castelli, in Musik gesetzt von Weiss, gesungen von Hrn. Hoffmann…
3. Grand Trio von Beethoven (in B), vorgetragen von den Herren Halm, Schuppanzigh und Linke… 4. Beethovens Adelaide, von Hrn. Hoffmann gesungen.
5. Das neueste Quartett von Beethoven in B (das dritte unter den letzten), bestehend aus folgenden Sätzen: a. Allegro moderato; b. Presto; c. Scherzo Andantino; d. Alla danza tedesca; e. Cavatina; f: Fuga. Der erste, dritte und fünfte Satz sind ernst, düster, mystisch, wohl auch mitunter bizarr, schroff und capriciös; der zweyte und vierte voll von Muthwillen, Frohsinn und Schalkhaftigkeit; dabey hat sich der grosse Tonsetzer, der besonders in seinen jüngsten Arbeiten selten Maass und Ziel zu finden wusste, hier ungewöhnlich kurz und bündig ausgesprochen. Mit stürmischem Beyfall wurde die Wiederholung beyder Sätze verlangt. Aber den Sinn des fugirten Finale wagt Ref. nicht zu deuten: für ihn war es unverständlich, wie Chinesisch. Wenn die Instrumente in den Regionen des Süd- und Nordpols mit ungeheuren Schwierigkeiten zu kämpfen haben, wenn sie sich unter einer Unzahl von Dissonanzen durchkreuzen, dann gibt es ein Concert, woran sich allenfalls die Marokkaner ergötzen können.“
Eine Konsequenz dieser Polemik war die schüchterne Anfrage des Verlegers Artaria bei Beethoven, ob er nicht „anstatt der schwer fasslichen Fuge ein neues, den Ausführenden wie dem Fassungsvermögen des Publikums zugänglicheres letztes Stück“ schreiben könne. Der Künstler gab dieser Bitte für seine Verhältnisse ungewohnt widerspruchslos nach, indem er für das B-Dur-Quartett ein neues Finale komponierte und die Fuge später als op. 133 separat herausgeben ließ.
Beethoven spürte wohl selbst, dass die revolutionäre Anlage dieses Satzes, seine emotionale und musikalische Energie die Funktion eines Finales sprengte. Schon sein Freund Karl Holz argumentierte Beethoven gegenüber damit, dass „diese Fuge ein außer dem Bereich des Gewöhnlichen, ja selbst seiner neuesten ungewöhnlichen Quartettmusik liegendes Kunstwerk sei, dass es für sich allein abgesondert dastehen müsse, auch allerdings eine eigene Opuszahl verdiene“. Das neue Finale hat unter dem hohen Anspruch seines Vorgängers bis heute leiden müssen. Es wurde als „Rückentartung“ des späten Beethoven in den Stil seiner Jugendjahre gewertet. Unsere Interpreten spielen das Quartett in der Urfassung mit der Großen Fuge als Finale – bis heute für jedes Quartett eine Herausforderung.
Der erste Satz bestätigt, was Beethoven von seinen späten Quartetten insgesamt sagte: „Sie werden eine neue Art der Stimmführung bemerken, und an Phantasie fehlts, Gottlob, weniger als je zuvor.“ Die „neuartige Stimmführung“ zeigt sich im Allegrothema, das aus zwei knappen Motiven im doppelten Kontrapunkt zusammengesetzt ist: aus einer schweifenden Sechzehntellinie und einer kraftvollen Auftaktfigur mit Tonwiederholungen und Quartsprung. Die beiden Motive durchziehen in ständiger Metamorphose den ganzen Satz, bis hin zu ihrer lyrischen Verwandlung in ein hochromantisches Intermezzo mitten in der Durchführung. Neuartig ist auch die Form des Satzes, dessen langsame Einleitung nicht nur zu Beginn erscheint und kurz vor Schluss noch einmal zitiert wird, wie es schon Mozart in seinem D-Dur-Streichquintett, KV 593, getan hatte. Der Anfang der Einleitung ist episodenartig immer wieder in den Satz eingestreut, so dass ein rhapsodisches Schwanken zwischen Adadio- und Allegro-Abschnitten entsteht.
Die drei Binnensätze des Quartetts entsprechen vage den Satzcharakteren Scherzo, Andante und Deutscher Tanz. Im zweiten Satz wechselt ein gespenstisch dahinhuschendes b-Moll-Stück mit einem kräftigen Triolenthema in Dur ab. Das Andante in zweiteiliger Sonatenform ist ein aus kurzen Scherzando-Motiven in allen Stimmen sich kontrapunktisch ständig neu zusammensetzender, wunderbar gelöster Satz. „Alla danza tedesca“ wirkt wie ein zweites Scherzo, aber im gemächlichen Tempo, dessen Melodie in klaren viertaktigen Perioden nach dem Trio variiert wiederholt wird.
Als lyrischer Gesang und Intermezzo zugleich steht vor dem Finale die Cavatina. Beethoven hat hier wie auch in seinen späten Klaviersonaten („Arietta“ in Opus 111) eine Form der Vokalmusik zitiert und neu gedeutet. Die Violine I „singt“ das Thema, eingeleitet und unterbrochen vom „Orchester“ der Unterstimmen, wobei die Violine II mehrmals die Phrasenenden der „Sängerin“ echoartig wiederholt. Die Stimmfühung ist jedoch so komplex, dass die „Orchesterstimmen“ immer wieder über die imaginäre Gesangsstimme geführt sind. Im Ausdruck ist dieses Adagio von tiefster Innigkeit geprägt, die im Mittelteil der Beklemmung weicht. „Wie beklemmt“ hat Beethoven als Ausdrucksanweisung über die stockenden Achtel der Violine I geschrieben.
Es folgt die Große Fuge, jener Satz, der das Publikum bei der Uraufführung des Quartetts so sehr empörte. Nicht nur der bereits zitierte Kritiker nannte die Fuge „chinesisch“ und dachte an die „Regionen des Süd- und Nordpols“ oder an „die Marokkaner“. Auch andere Zeitgenossen wie Mendelssohns Vater oder der Komponist Luigi Cherubini schimpten über diese dunkle und völlig unverständliche Musik: Cherubini meinte nur, die letzten Werke Beethovens machten ihn „niesen“. In der Tat wird durch die revolutionäre Sprengkraft dieses Satzes, seine emotionale und musikalische Energie, das Medium Streichquartett wie auch der Zyklus eines mehrsätzigen Quartetts bis zum Zerreißen gespannt.
Das Hauptthema der Fuge tritt in vier verschiedenen Gestalten auf, die zu Beginn in einer „Overtura“ nacheinander vorgestellt und dann in vier Einzelfugen, allerdings in umgekehrter Reihenfolge, durchgeführt werden. Es handelt sich, dem Beethovenforscher Joseph Kerman zufolge, um „eine disziplinierte Doppelfuge in B-Dur, eine hervorragend undisziplinierte Fuge in As-Dur, einen lyrischen Zwischenteil in G-Dur, der gar nicht als Fuge gelten kann, eine vierte Version des Grundthemas in einer simplen fast komischen Tanzpassage sowie einen langen Schlussabschnitt, in dem die diversen Themengestalten neckisch hervorgeschleudert und wieder fallengelassen werden.“